Ursula Spitzer
Reise durch fünf Jahrzehnte
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ursula Spitzer Reise durch fünf Jahrzehnte Dieses ebook wurde erstellt bei
EINLEITUNG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
SCHLUSS
Impressum neobooks
Die späte Morgensonne scheint durch das schmutzige Fenster des Zugabteils. Ich sitze auf dem breiten roten Kunstledersitz, die Füße auf die gegenüberliegende Seite aufgelegt, die Reisetasche rechts neben mir stützt meinen Arm. Es ist schön, am Wochenende die Bürohektik und den Großstadtstress hinter sich zu lassen.
Der Zug fährt langsamer – er hält. Ich lese das Ortsschild: Junkersdorf.
Ab hier genieße ich die Landschaft. Weite hügelige Wiesen, kleine Wälder, durch das Dickicht sich windende Bäche, unberührte Natur – so scheint es zeitweise. Doch dann ab und zu kleine Dörfer – Dörfer, wie man sie sonst nur im Bilderbuch sieht – Bauernhöfe, Kirchen, dazwischen Wiesen, Blumen, weidende Kühe und gelegentlich eine kleine Kneipe. Diese Landschaft nennt man Eifel.
Dann – Bahnhof Erdorf. Hier steige ich aus. Zwei Gleise, ein Bahnhofshäuschen aus den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts. Am Fahrkartenschalter steht: „für immer geschlossen“.
Doch nebenan die alte kleine Bahnhofskneipe gibt es noch. Ich gehe hinein. Lasse eine Taxe rufen. Busse fahren hier nur noch zweimal am Wochenende in die nächsten Ortschaften.
„Nach Bitburg bitte“, sage ich zu dem Taxifahrer.
Zu Hause angekommen, vor dem Reihenhaus meiner Eltern am Rande der Stadt, lese ich einen handgeschriebenen Zettel: „Wir sind einkaufen.“
Ich klingele bei der Nachbarin, sie öffnet mir die Tür. Ich rufe kurz: „Hallo, Anne ist da“, stelle meine Tasche im Keller ab, „bis nachher.“
Ich gehe langsam die kleinen Straßen entlang, die zur Fußgängerzone in der Innenstadt führen. Dort, im Cafe Hilger, suche ich einen sonnigen Platz. Die weißen Tische und Stühle stehen draußen und sind von einem weißen kleinen Holzlattenzaun eingegrenzt. Alle Tische sind besetzt – natürlich bei diesem sonnigen Tag.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ frage ich den in der Ecke sitzenden Mann in braunen Bermudas und grünem Shirt. Seine Kamera mit einem großen Teleobjektiv liegt auf dem Tisch neben seinem Kuchenteller. Ich setze mich ihm schräg gegenüber.
„Was machen Sie hier, einen Ferientrip?“ fragt er sympathisch.
„Zur Zeit bin ich auf dem Weg in meine Vergangenheit. Ich suche die Orte meiner Kindheit und Jugendzeit auf.“
„Sie sind also hier geboren“, sagt er. „Ja“, antworte ich.
„Mein Name ist Jonas“, sagt er, „ich schreibe für das Norddeutsche Tageblatt einen Bericht über die Zeit, nachdem die Amerikaner ihre Stützpunkte verlassen haben. Und Bitburg war ja schließlich der zweit bedeutendeste Militärstützpunkt.“
Ich bestelle einen Erdbeerbecher.
„Darf ich ein Stück des Weges mit Ihnen gehen?“, fragt Jonas, als ich mich verabschieden möchte.
Jonas geht mit mir. Vor dem Haus, in dem ich meine Kindheit verbrachte, setze ich mich zusammen mit Jonas auf die Wiese. Wir lehnen uns an das Nachbarhaus an und ich erzähle Jonas den Anfang meiner Geschichte.
Ich erinnere mich:
Ich sitze auf warmen weißen Steinen, meine Beine baumeln durch die Gitterstangen an der Randseite den Balkons.
Die Sonne brennt heiß, der Himmel über mir ist ganz blau. Still ist es in unserer Siedlung. Unter mir beobachte ich die großen weißen Bettlaken, die im Wind aneinander schlagen. In der Ferne höre ich das Geräusch eines Rasenmähers. Unter unserem Balkon ist ein gleicher Balkon, davor ein schmaler Schotterweg und zwischen unserem Wohnhaus und dem nächsten gibt es eine schöne grüne Wiese mit einem Sandkasten.
Am Morgen ist es meistens sehr ruhig in unserer Siedlung. Die Väter sind zur Arbeit gefahren, die großen Kinder in die Schule gegangen und in den Küchen sind die Mütter am Kochen oder Einmachen.
Meine Mutter sitzt in der Wohnküche, einen kleinen Eimer auf ihren Schoß und putzt Gemüse. Bei der Hausarbeit trägt sie immer eine weiße Schürze mit irgendwelchen Stickereien darauf. Wie so oft singt sie dabei ein Lied. Gerne höre ich:
Die Fischerin vom Bodensee ist eine schöne Maid joche,
ist eine schöne Maid joche,
die Fischerin vom Bodensee.
Fährt sie auf den See hinaus,
wirft sie ihre Netze aus.
Schon ist ein junges Fischlein drin,
im Netz der Fischerin.
Die Wellen schlagen, die Nebel steigen,
die Nixen tanzen auf den Reigen,
die Fische machen Musik dazu,
die Wellen flüstern sich ganz heimlich zu.
Ein weißer Schwan
ziehet den Kahn, mit der schönen Fischerin
auf den blauen See dahin.
Im Abendrot
schimmert das Boot. Lieder klingen von der Höh`,
am schönen Bodensee.
Da kommt ein alter Hecht daher,
übers große Schwabenmeer, übers große Schabenmeer,
kommt der alte Hecht daher und möchte noch ins Netz hinein,
bei der Maid gefangen sein.
Da zieht die Fischerin im Nu
das Netz schon wieder zu.
Die Wellen schlagen,
die Nebel steigen ...
Ein weißer Schwan ziehet den Kahn ...
Im Abendrot schimmert das Boot.
Lieder klingen von der Höh`
am schönen Bodensee.
Am Bodensee.
Ich hatte immer das Gefühl der Geborgenheit, wenn ich in der Wohnküche saß und spielte während meine Mama kochte oder bügelte.
Vater hatte mir einmal ein Puppenhaus aus dünnem Holz gebastelt. Sehr glücklich war ich darüber, denn ich musste nicht mehr mit den zerbeulten Schuhkartons spielen. Aus Pappe hatte ich mal zusammen mit Papa Betten, Schrank, Hocker usw. gebastelt; Oma hatte mir für meine kleinen Plastikpuppen Kleider genäht. Eine richtige Puppenfamilie besaß ich.
Wenn ich das Puppenhaus auf dem Küchentisch in eine bestimmte Richtung dem Fenster gegenüber stellte, schien das Licht besonders schön hinein.
Lebhafter wurde es ab Nachmittag in unserem Haus. Die Schulkinder waren wieder aus der Schule zurück; aber, was dem Haus zu einem besonderen Leben verhalf, waren die Mütter, die sich so oft am Nachmittag im Treppenhaus versammelten. Sie standen in ihren Türschwellen. Eigentlich wollte eine von der anderen nur etwas ausleihen oder einer etwas sagen, blieb aber dann mit ihr im Treppenhaus stehen, erzählte und erzählte. Andere hörten diesen Treppenklatsch und gesellten sich hinzu.
Und es geschah oft, dass auch wir Kinder auf die Flure hinauskamen. Wir spielten dann auf den Stufen, sprangen die Stufen hinunter, veranstalteten ein Wettspringen. Wer konnte von welcher Stufenhöhe springen? Wer konnte von welcher Markierung aus dem Hausausgang springen? Wir legten uns mit dem Bauch auf die Treppengeländer und rutschten so den „Berg“ hinunter.
Ganz beliebt war das „Schule spielen“ auf den letzten Treppenstufen vor dem Hausausgang. Einer spielte den Lehrer oder die Lehrerin, die anderen saßen auf der Treppe, die die Schulbänke ersetzen mussten. Das Springen störte unsere Mütter fast immer; aber das „Schulespielen“ wurde gar nicht ungern gesehen.
Drei Kinder aus unserem Hause gingen noch nicht in die wirkliche Schule. Aber durch diese Spiele bekamen sie schon eine Vorstellung, wie es dort abläuft. Hin und wieder kam mal ein Kind aus einem Nachbarhaus hinzu.
In unserem Hause lebten 6 Familien, zusammen waren wir 10 Kinder. Die Älteste war Heike, 9 Jahre, die jüngste, Inge, 1 Jahr.
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