An der Abzweigung Pesulski-Straße verabschiedeten sie sich voneinander und hatten für den späten Abend ein Treffen im Musiksaal des Hotels vereinbart, wo Boris ihr die ersten Schritte auf dem Klavier zeigen wollte. Er umarmte sie und küsste sie auf den Mund. “Dann können wir auch Du zueinander sagen”, schickte er dem Kuss hinterher, bei dem Vera ihre Zunge tief in seinen Mund eingeschoben hatte. Es war das erste Mal, dass er einer Frau den Mund küsste und dann noch ihre hin und her fahrende Zunge in seinem Mund spürte. Vera: “Bis später, Boris. Ich liebe dich!” So ging sie anders als einige Stunden zuvor in Richtung Hotel. Boris schaute ihr noch kurz nach und bewunderte von hinten ihren Gang mit den reizvollen Proportionen, der schmalen Taille und den geschmeidig ausladenden Hüften, was durch ihr kniekurzesolivgrünes Kleid, das Vera hautnah anlag, vorteilhaft, ja auf eine begehrenswerte Weise betont wurde.
Der Besuch bei Frau Lydia Grosz
So beeindruckt und mit den zahlreichen Neuigkeiten des Nachmittags ging er die Pesulski-Straße bis zur Nummer 17. Er stand vor einem alten Bürgerhaus mit einem kleinen Vorgarten hinter einem schmiedeeisernen Zaun. Die Einschlagslöcher der Granaten waren zwar mit Zement geschlossen, dennoch waren die Kriegsschäden an diesem Haus nicht so perfekt wegrestauriert worden wie am Alten Rathaus und an den vielen anderen Gebäuden der Innenstadt. Boris klingelte am Tor des Vorgartens. Frau Lydia Grosz öffnete die Haustür und rief: “Kommen Sie, Herr Baródin, ich erwarte Sie.” Boris ging den Weg zur Haustür, wo Frau Grosz ihm die Hand reichte und ihn herzlich mit den Worten begrüßte: “Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.” Er schloss die Tür und folgte ihr durch einen langen Flur, dessen Wände mit großen Ölgemälden behängt waren. Sie traten in den Salon, einen großen Raum am Flurende. Der Raum war mit einem bunten, blau gemusterten Perserteppich ausgelegt und mit alten Barockmöbeln stilvoll eingerichtet. Auf dem kleinen, schmucken Schreibtisch mit den Schubladen im Aufsatz, zwei rechts, zwei links und der gefächerten Ablage in der Mitte, standen zwei Fotos hinter Glas. Es waren Fotos von Männern, von denen der eine etwa im Zenit des Lebens gestanden haben mochte, und der andere ein junges, auffallend schönes Gesicht mit hoher Stirn, schmaler Nase, großen dunklen Augen und einem ausdrucksvollen Mund mit weiten, weich ausladenden und geschwungenen Lippen hatte. “Nehmen Sie doch Platz, Herr Baródin.” Frau Grosz führte ihn zur Klubgarnitur in die Salonecke, die im Winkel zweier Wände zwei große Fenster trug. Das eine Fenster gab den Blick auf die Pesulski-Straße frei, während das andere Fenster, vor dem rechts der kleine Barock-Schreibtisch stand, den Einblick in einen kleinen Garten mit einem alten Nussbaum, zwei Birken, einigen Blumenbeeten und einem Gurkenbeet gab. Frau Grosz wies ihm einen der drei Barock-Sessel zu, während sie sich im dunkelblauen Kostüm mit violettem Seidenschal um den Hals auf die zweisitzige Couch setzte. “Sie haben doch keine Schwierigkeiten gehabt, mich zu finden”, begann Frau Grosz die Konversation. Boris: “Nachdem Sie es mir erklärt hatten, war es wirklich leicht, Sie zu finden.” Frau Grosz: “Da bin ich froh, dass Sie nicht lange suchen mussten. Vor einer halben Stunde hat mich mein Bruder angerufen. Er ist ja des Lobes voll über ihren Brahms-Vortrag.” Boris: “Vielen Dank.” Frau Grosz: “Und nicht nur er ist von ihrem Spiel begeistert. Auch mir hat ihr Spiel sehr gefallen. Wie ich Ihnen schon in der Philharmonie sagte, steht ihr Brahms-Vortrag dem anderer großer Pianisten nicht nach. Ich habe das Klavierkonzert von Kempff, Horowitz und Goulda gehört. Doch Sie haben es großartig gebracht. Sie haben die Begabung, die Seele des Werkes zu entfalten und dem polnischen Ohr hörbar zu machen. Wie oft haben Sie das Konzert gespielt, Herr Baródin?” Boris: “Ich habe es schon einige Male gespielt. Doch mit jeder Wiederholung bin ich reifer geworden, bin näher an das gekommen, was Brahms sagen will.” Frau Grosz: “Und er hat so viel zu sagen. Es reicht von der Melancholie des Anfangs des ersten Satzes mit dem Aufschwung, der Brahms’schen Frage nach dem Leben, der die akzentuierten Motive, ich möchte fast sagen, die Reitermotive mit den Sprüngen folgen, über die verhaltene, dann sich ausschwingende Heiterkeit im >Allegro appassionato< bis zur nachdenklichen Bestimmtheit des >Andante< im Zuspruch, das Leben anzunehmen und zu seiner Bewältigung mit dem Mut nicht nachzulassen und dabei aufrichtig und standfest zu sein. Ein aufweckendes und wachrüttelndes Werk, das zur Nachdenklichkeit stimmt.”
Boris: “Ja, das Klavierkonzert ist eine große, den ganzen Menschen umfassende Arbeit, in der die Gefühlsskala von der Schwermut bis zur Heiterkeit, vom Erwachen zum Erstaunen, von den Tiefen des Leides bis zu den Höhen der Freude und der großen Hoffnung zum vollendeten Glück reicht.” Frau Grosz: “Das er selbst nie bekommen hat. Brahms hatte eine überempfindliche Seele, die er in seiner Musik großartig und nobel zum Ausdruck bringt. Als Mensch war Brahms schwierig im Umgang, er war leicht verletzbar. Er liebte Kinder und konnte schroff zu den Erwachsenen sein. Von meinem Mann, der Geiger in der Wiener Philharmonie war, habe ich die folgende Anekdote noch in Erinnerung: folgte Brahms einer Einladung, was er nicht immer tat, dann fiel er durch seine Schweigsamkeit auf. Auf Äußerungen der Erwachsenen reagierte er empfindlich und gereizt. Als er dabei war, eine geladene Gesellschaft zu verlassen, soll er sich an der Tür umgedreht und gesagt haben: wenn da noch einer sein sollte, den er nicht beleidigt habe, dann möchte er sich entschuldigen.” Boris: “Diese Anekdote kannte ich nicht. Aber ich stimme ihnen zu, dass Brahms bei seiner Überempfindlichkeit schnell verletzbar gewesen sein musste. Denn das ist aus seiner Musik herauszuhören.” Frau Grosz: “Und stets schwingt das Geheimnisvolle durch seine Musik.” Boris: “Wie oft das Tragische durch die Musik Tschaikowskys schwingt.” Frau Grosz: “Das haben Sie gut herausgehört, Herr Baródin. Doch wissen Sie, mit der Tragik können wir Polen besser umgehen als mit dem Geheimnisvollen, das sich nicht immer offenbart. Die Tragik ist uns Polen ins Herz geschrieben. Nehmen Sie die polnische Geschichte bis zum zweiten Weltkrieg. Sie strotzt von Tragik und Trauer.” Boris: “Obwohl beides auch dem deutschen Volk aufgegeben wurde.” Frau Grosz: “Das stimmt schon, wenn auch nicht in dem Maße wie dem polnischen Volk. Denken Sie nur an die Besetzung Polens durch die deutsche Armee, denken Sie Treblinka und Auschwitz. Das haben die deutschen so nicht miterlitten. Das werden Sie sicher von ihren Eltern gehört haben.”
Boris: “Mein Vater war sowjetischer General und der erste Nachkriegskommandant von Bautzen; meine Mutter wurde schon am zweiten Tag von zwei Russen auf dem Dachboden vergewaltigt.” Frau Grosz: “Das mit ihrer Mutter tut mir leid, das mit ihrem Vater stimmt mich neugierig. Dann sprechen Sie auch russisch? Mein Vater hat mir einiges beigebracht, von dem allerdings nicht mehr viel geblieben ist.” Frau Grosz: “Und von wem haben Sie ihre musikalische Begabung geerbt?” Boris: “Vom Vater, der ein ausgezeichneter Pianist war und wiederholt sagte, dass er beim Klavier hätte bleiben sollen, wo er glücklich geworden wäre, was er als General der Roten Armee nicht geworden sei.” Frau Grosz: “Die Musikalität ist bei den Russen weit verbreitet. Dennoch erstaunt die Kombination von Pianist und General, wenn ich auch Kombinationen mit einer mathematischen oder künstlerischen Ausbildung bei Berufsoffizieren angetroffen habe.” Boris: “Mein Vater hat mir die ersten Schritte auf dem Klavier beigebracht. Dafür bin ich ihm zeitlebens dankbar.” Frau Grosz: “Da tun Sie aber recht. Er ist dann sicherlich auch ein sensibler Mensch…” Boris: “Dem jedes Kind auf dem Kopf rumtanzen kann, ohne dass er die Geduld verliert. Doch die Untergebenen hatten großen Respekt vor ihm.” Frau Grosz: “Interessant und eine besondere Geschichte, aus der Sie hervorgegangen sind. Haben Sie noch Kontakt mit ihrem Vater?” Boris: “Ich werde ihn in Moskau treffen, wenn ich dort das Brahms-Konzert spielen werde. Wie Vater schrieb, zählt er die Tage bis zu meinem Kommen.” Frau Grosz: “Wie wunderbar. Sie vereinen in ihrem Blut die deutsche und die russische Seele. Das zeichnet Sie zum besonderen Kulturträger aus. Ich hatte mir schon so etwas gedacht, denn Baródin ist kein deutscher Name.” Boris: “Es ist der Name der Mutter meines Vaters.” Frau Grosz: “Auch aus ihrem Brahms-Vortrag konnte ich heraushören, dass ein gut Teil slawisches Blut durch ihre Adern fließt. Vielleicht ist es das Mischblut in ihnen, dass Sie das Konzert für uns Polen so aufweckend, empfindsam und liebenswert spielen. Denn mein Bruder ist mit Komplimenten dieser Art, dass er durch ihr Spiel Brahms wieder lieben gelernt hat, im Allgemeinen äußerst zurückhaltend. Offen gesagt, ich kann mich an keinen Fall erinnern, dass er das getan hat.” Boris: “Selbst kann ich dazu nichts sagen, weil ich mir gegenüber nicht objektiv bin. Aber wo Sie das mit dem slawischen Blut erwähnen, kann ich mir auch besser erklären, warum mir beim >Andante< in Tschaikowskys Fünfter Tränen in die Augen stiegen und ich anfing zu zittern. Diese Schwermut wirft mich jedesmal um.”
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