So setzten sie sich an den letzten kleinen Rundtisch, der gerade abgeräumt wurde. Ein weiß beschürztes, schlankes Mädchen mit blondem Haar und braunen Augen, die nicht älter als zwanzig sein konnte, kam an den Tisch und nahm die Bestellung entgegen, die Vera ihr in der Landessprache gab. Die Gäste, die zum Kaffee auch Tortenstücke, Apfel- und Pflaumenkuchen verzehrten, waren heitereaufgeschlossene Menschen, die den Rundtischgesprächen zugetan waren und dabei auch lachten. Boris war der polnischen Sprache nicht mächtig, wenn er auch wenige Worte zu verstehen glaubte. Was er heraushörte, wenn er Vera in ihr schönes, ovales Gesicht mit den dunkelbraunen Augen schaute und ihr blendend weißes Gebiss bewunderte, wenn sie sprach und dabei lächelte, waren die anderen Sprachen wie Russisch und Deutsch mit Wiener Akzent, die an den Nebentischen gesprochen wurden. Die Serviererin kam mit zwei Kännchen Kaffee und zwei Tassen zurück, die sie geschickt auf der kleinen runden Tischplatte absetzte. Sie sagte in polnisch, was Vera übersetzte: “Es gibt frischen Pflaumenkuchen und Streuselkuchen nach ostpreußischer Art. Wollen wir uns nicht auch einen Kuchen zum Kaffee gönnen?” “Aber sicher, darauf habe ich Appetit”, bejahte Boris die Frage, und Vera gab die Bestellung der Serviererin in polnisch weiter. Sie gossen sich den Kaffee ein, rührten Milch und Zucker ein, als die Serviererin mit der neuen Bestellung den Tisch verließ und nach wenigen Minuten den Kuchen brachte. Dem Kaffee entströmte ein anregendes Aroma, das die Unterhaltung zusätzlich anregte. Boris: “Fräulein Vera, Sie hatten eine großartige Idee mit dem Stadtbummel.” Vera: “Nennen Sie mich einfach Vera. Ich nenne Sie doch Boris Baródin, ohne den Herrn davorzusetzen.” Boris: “Danke Vera. So lerne ich in den paar Tagen einiges kennen, was Warschau in der Innenstadt, in seinem Herzen für die Menschen bereithält.” Vera: “Ich hoffe, dass es Ihnen gefällt.” Boris: “Es gefällt mir sehr und besonders gefällt mir, dass ich das Herz Warschaus mit Ihnen erleben kann.” Vera: “Nun erzählen Sie mir etwas mehr von der Probe heute morgen.” Boris hatte sich gerade die Gabel mit Pflaumenkuchen in den Mund getan, so dass Vera einen Schluck Kaffee zu sich nahm. Boris: “Vera, ich muss sagen, dass die Warschauer Philharmonie ein Klangkörper von Weltspitze ist. Die bringt einen Klang hervor, der mich tief beeindruckt hat und mit der Dresdner Staatskapelle oder dem Leipziger Gewandhausorchester vergleichbar ist. Sie ist ein großartiges Ensemble unter dem großartigen Dirigenten Wiktor Kulczynski. So kam auch das Brahms’sche Klavierkonzert gut heraus.” Vera: “Das freut mich sehr. Ich kann mich nicht erinnern, wann dieses Konzert zum letzten Mal gegeben wurde.” Boris: “Stellen Sie sich vor, Vera, am Schluss des Konzerts hielt der Dirigent ein Gespräch mit mir, in dem er sagte, dass er von meinem Vortrag begeistert war und er Brahms durch meine Spielweise lieben gelernt hätte. Ist das nicht ein Kompliment?”
Vera: “Das ist das größte Kompliment, das zu vergeben ist, wenn er von der Liebe zum Schöpfer des Musikwerkes spricht.” Boris: “Das finde ich auch, und Wiktor Kulczynski hat sich für das Wiederfinden der Liebe zu Brahms sehr herzlich bedankt.” Vera: “Das ist doch großartig. Sie müssen das Konzert aber auch großartig gespielt haben.” Boris: “Ich muss schon sagen, Brahms zu spielen ist kein Kinderspiel. So habe ich mir alle Mühe gegeben, um seine Botschaft herüberzubringen.” Vera: “Und Sie haben sie vortrefflich herübergebracht, sonst hätten Sie so ein Kompliment nicht bekommen.” Boris: “Das kann möglich sein.” Vera: “Wenn ich es richtig verstehe, muss es so gewesen sein.” Boris: “Aber auch das Orchester hat sich ins Zeug gelegt und das Letzte aus sich herausgeholt. Denn anders kann eine Brahms’sche Botschaft nicht gebracht werden. Was Wiktor Kulczynski noch sagte, war, dass Brahms für die Polen nicht so leicht zu spielen sei wie Mozart, Tschaikowsky oder Mendelssohn Bartholdy, weil Brahms ganz deutsch, vielleicht meinte er streng im Beethoven’schen Sinne geschrieben hat.” Vera: “Das ist nun zu hoch für mich. Soweit bin ich in der Musik nicht bewandert. Was war damit gemeint?” Boris: “Die intellektuelle Schreibweise in der Musik, die schärfer wird, je weiter es in den Westen Europas geht. Für das slawische Gemüt hat die Emotion den höheren Stellenwert gegenüber dem Intellekt. Dabei unterstelle ich dem Intellekt die Logik der Mathematik, die es überall, so auch beim Schreiben der Musik gibt. Den Unterschied habe ich bei der Probe heute morgen wieder erlebt. Die Schwermut, die im Beginn des Brahms-Konzertes herauszuhören war, war für mich so deutlich, dass mir Bilder vom breiten, träg dahinfließenden Wolgastrom in den Sinn kamen. Dabei kam diese Schwermut jedoch nicht an die noch größere Schwere einer Depression im Beginn der Fünften von Tschaikowsky, dem >Andante<, heran.
Die Emotion der Schwermut, wie sie vom russischen Genius zum Ausdruck kommt und slawisch empfunden wird, ist doch um ein vielfaches stärker. Sie ist so stark, dass ich zitterte, weil mir mit der Eingangsmelodie im >Andante< die trostlos-fürchterlichen Bilder der ausgehungerten Häftlinge in den KZs der Nazis oder den Stalin’schen Arbeitslagern vors innere Auge traten und ich sie im Geiste diese Melodie summen hörte, wenn sie im frühen Morgengrauen zur Arbeit ausrücktenoder in der späten Abenddämmerung zurückkehrten. In der Vorstellung der verdichteten hoffnungslosen Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen hat es mich geschüttelt.” Vera: “Da hat Sie Tschaikowsky aber tief getroffen.” Boris: “Das hat er, und jedesmal, wenn ich den Beginn des >Andante< höre, erfasst mich das Zittern von neuem.” Vera: “Aber Boris Baródin, Sie sind zu jung, um von diesen Grausamkeiten zu wissen. Ihr Wissen davon können Sie doch nur von den Erzählungen bekommen haben.” Boris: “Das stimmt. Aber schon die Erzählungen, die ich von meinem Vater, dem Sowjetgeneral Ilja Igorowitsch Tscherebilski, und meinem Großvater, dem einstigen Breslauer Superintendenten Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, bekommen habe, haben sich schwer auf meine Seele gelegt. Diese Erzählungen, wie grausam da mit den Menschen umgegangen wurde, haben sich tief in mein Gedächtnis eingemeißelt. Sie sind für mich furchtbar und unvergesslich. Glauben Sie mir, Vera, die Musik, die ich spiele, ist in erster Linie und jedesmal den Menschen gewidmet, die von dem unmenschlichen Terror ergriffen, getötet und zu Krüppeln geschlagen worden sind.” Vera: “Nun verstehe ich Sie besser. Ich verstehe, warum die Musik für Sie so wichtig ist. Sie ist das Medium, um den Menschen nicht nur in die Köpfe, sondern in ihre Herzen zu reden und den Kontakt zum Menschen zu halten, auch dann, wenn er getötet wurde.” Boris: “So können Sie es sehen. Da blicken Sie in die richtige Richtung. Die Botschaft, die ich zu bringen habe, begnügt sich nicht mit der rationalen Oberfläche, sie lässt sich von ihr nicht aufhalten. Die Musik zielt in die Tiefe. In die Tiefe der Herzen soll die Botschaft gehen. Wie sonst sollen sich die Menschen bessern, so lange sie noch ansprechbar und wachzurütteln sind, das Gute zu tun und das Böse zu lassen?!”
Vera: “Ich verstehe, Boris Baródin, Sie sind ein Missionar, der die Menschen durch ihre Musik zur Umkehr bewegen will.” Boris: “Das Problem ist die fehlende Kommunikation unter den Menschen. Dazu kommt der kalte Materialismus, bei dem nur das Geld zählt. Die Jugend in Deutschland fühlt sich von der älteren Generation unverstanden. Die ältere Generation wiederum klagt, dass die Jugend nicht mehr auf sie hört. Die Folgen sind der Leistungsabfall in den Schulen und der Motivationsverlust, dass nur durch Lernen und Arbeit ein gutes Resultat erzielt werden kann.Dem geht einher, dass schon an den Schulen die Drogenszene ein Problem geworden ist. Die Maßstäbe der guten Erziehung sind gebrochen, beziehungsweise abgebrochen und verstümmelt. Die guten Sitten der Achtung und des Helfenwollens sind verlorengegangen. In der Gesellschaft sind Ordnung, Respekt vor dem Menschen und der Wille zur Nächstenhilfe verkümmert. Das ‘Laissez-faire’ der Gleichgültigkeit und das Drogenproblem haben überhand genommen. Ist das in Polen auch so?” Vera: “Es hat auch hier begonnen. Auch hier ist der Materialismus in die Köpfe gestiegen. Auch hier ist es zu spüren, wie sich die Jugend von der älteren Generation absetzt und ihre eigenen Wege geht. Auch hier gerät die Gesellschaft aus den Fugen der Moral und der guten Sitten. Die jungen Menschen beklagen, von den Alten nicht verstanden zu werden, und die alten Menschen halten der Jugend die Respektlosigkeit und Unwilligkeit zum Lernen vor. Boris, hier ist nicht alles gut, was für den ersten Augenblick glänzt. Für mich als junge Frau kommen dann noch die Frechheiten hinzu, die sich Männer den Frauen gegenüber herausnehmen. Das hat es früher, in den ersten Jahren nach dem Kriege nicht gegeben, als alle Hand in Hand gearbeitet haben, das verwüstete Polen wieder aufzubauen, aus den Ruinen wieder ansehnliche Städte zu machen. Da gab es den Respekt vor dem anderen Menschen.Viel galt das Wort der Alten viel, und die Jugend hörte auf sie und befolgte ihren Rat. Das hat sich mit dem aufkommenden Wohlstand geändert. Nun meint jeder, er könne es besser als der andere, der Jüngere besser als der Alte.” Boris: “Dann gibt es auch hier das Drogenproblem.” Vera: “Das gibt es in der Tat. Das Rauschgift kommt aus Kasachstan und Turkmenistan und nimmt den weiten Weg mit der transsibirischen Eisenbahn bis nach Moskau oder die Krim, von wo es per Schiff oder Laster nach Polen kommt.”
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