Das Orchester versammelte sich auf der Bühne, um die Probe fortzusetzen. Auf dem Programm stand Tschaikowskys Fünfte in e-Moll, Opus 64. Wiktor Kulczynski hatte sich aufs Podium begeben und blätterte in der Partitur. “Nehmen wir uns nun die Fünfte vor. Es ist ein großes Werk, das uns Polen ins Herz geschrieben wurde. Konzertmeister, ich darf um das ‘A’ bitten.” Der junge Konzertmeister mit den dunkelbraunen Augen und dem schwarzen, zurückgekämmten Haar strich den Bogen auf der A-Saite rauf und runter. Er hatte den Saitenton zuvor mit dem ersten Fagott abgestimmt. Kulczynski: “Nun bitte alle das ‘A’. Bei den Celli ist das ‘A’ zu tief. Bitte noch einmal stimmen”, worauf der Konzertmeister noch einmal und so lange über die leere A-Saite strich, bis die Saiten der Streichinstrumente gleichmäßig gestimmt waren. Kulczynski: “Danke. Nun wollen wir beginnen. Beachten Sie die Lautzeichen mit den Crescendi und Decrescendi. Die Befolgung dieser Zeichen ist von größter Wichtigkeit.” Er hob den Stab und senkte ihn. Die Klarinetten bliesen das Thema des >Andante<: B-C-B-A-B-G / D-Es-D-C-D-B / G-F-Es-D-C-B. Boris liebte die Fünfte von Tschaikowsky wegen der Stärke, mit der slawisches Fühlen zum Ausdruck kommt. Er hatte sich neben Frau Lydia Grosz gesetzt, um sich den ersten Satz anzuhören. Schon in den ersten sechs Takten des Klarinettenvortrags trat wieder der breite Wolgastrom vor seine Augen. Aus den gebundenen Sechzehnteln nach den punktierten Vierteln hörte er das Schluchzen der Menschen heraus, so auch seines Vaters Ilja Igorowitsch. Drückender war slawische Schwermut nicht zu bringen als mit dem Beginn des >Andante< dieser Symphonie. Im Vergleich dazu drückte der Beginn des Brahms’schen Klavierkonzertes weniger schwer, auch wenn Boris da schon das Gefühl der Schwermut überkam. In der Fünften von Tschaikowsky, da war es das Trauerlied, der Trauermarsch, die Melancholie von größter Schwere. Diese Melancholie der Ausweglosigkeit konnte die Häftlinge in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis oder Stalins (“Archipel GULAG” ) befallen haben, sie konnten den Trauermarsch gesummt haben, wenn sie abgerungen und ausgezehrt mit der einsetzenden Tagesdämmerung zur Arbeit ausrückten, und mit dem letzten Tageslicht zurückkehrten, oder sich im Morgengrauen eines kalten Wintertages versammelten, zerrissen und gedemütigt bis in die Dürftigkeit der Kleidung und des Schuhwerks hinein durch den tiefen Schnee stapften und über eisig gefrorene Wege schlurften, um unter scharfer Bewachung zum ausgehobenen Massengrab oder der Erschießungsmauer geführt wurden. Das Thema des >Andante< fuhr Boris durch Mark und Bein. Es erschütterte ihn. In der Vorstellung solch letzter Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen überkam ihn das hilflose Zittern.
Ergriffen und erschüttert saß Boris neben Frau Lydia Grosz, der alten, dunkel gekleideten Dame mit dem schneeweißen Haar und hörte sich den tragischen Satz bis zu Ende an. Die Melancholie hatte ihn aufgewühlt. Er nahm sich zusammen und hoffte, dass die Dame sein Zittern, das ihm durch die Glieder fuhr, nicht bemerkte. Nach diesem ergreifenden >Andante< legte das Orchester eine Pause ein. Wiktor Kulczynski gab Instruktionen, wie der Ausdruck des >Andante< noch zu steigern war. Da merkte Boris, dass Dirigent und Orchester mit der russischen Musik bis ins Blut vertraut waren. Er dachte jedoch, dass eine Steigerung im Vortrag des >Andante< mit dem noch Mehr an Melancholie nicht möglich sei, denn die Zuhörer sollten nicht überfordert werden und gleich zu Beginn in Weinkrämpfe ausbrechen. So raffte er sich zusammen, verabschiedete sich von Frau Grosz, die bei der Verabschiedung leise hinzufügte: “Wir sehen uns heute Nachmittag in der Pesulski Straße 17.” Boris verließ den Saal, während Wiktor Kulczynski seine Instruktionen beendete und um Wiederholung des Satzanfangs bat. Beim Verlassen der Philharmonie atmete Boris einige Male tief durch, um sich mit der Welt außerhalb der Musik vertraut zu machen. Er ging zum nächsten Taxistand und ließ sich zum Hotel Polnischer Hof zurückfahren. Er sah aus dem Fenster und spürte, wie das >Andante< aus der Fünften in ihm hinterher klang, die Melancholie in ihm nachwirkte. Die Außenwelt mit ihren Autos, den Radfahrern und eilenden Passanten kam ihm fremd und leer vor. Das Amusische dieser Welt stieß ihn ab. Das Taxi hielt vor dem Hotel an, er stieg aus, zahlte, was zu zahlen war, und gab auch diesem Fahrer ein fürstliches Trinkgeld. Der dankte und reichte Boris seine Notentasche durchs offene Fenster nach: “Die sollten Sie nicht vergessen.” Boris dankte für die Aufmerksamkeit. So tief wirkte die Probe in ihm nach, dass er das Lächeln, das ihm Vera von der Rezeption an den Eingang schickte, als er durch die Türe trat, garnicht bemerkte. “Wie war es?”, fragte sie, als er sich der Rezeption näherte. “Es hat geklappt”, antwortete Boris in knappen Worten. Von der Wirkung, die das >Andante< aus Tschaikowskys Fünfter in ihm auslöste und noch so stark in ihm ‘wühlte’ sowie von den Bildassoziationen der breiten, träg dahinfließenden Wolga, an deren Ufer sein Vater, Ilja Igorowitsch, stand und nach ihm rief, sagte er nichts. Vera entging das angespannte Gesicht des jungen, von ihr verehrten Pianisten nicht, dem sie im Geheimen schon ihre Liebe gab. “Nun sollten Sie sich ausruhen und pünktlich am Mittagstisch sein. Als Spezialität gibt es heute Eisbein mit Sauerkraut und Dampfkartoffeln”, sagte sie. Verabehielt ihr freundliches Lächeln auf dem Gesicht und bemühte sich, Boris zu entspannen.
Da kein anderer Gast an der Rezeption stand und auch keiner auf die Rezeption zukam, sagte Vera, dass sie sich für den Nachmittag freigenommen hätte: “Da können wir vielleicht einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen und irgendwo eine Tasse Kaffee zusammen trinken.” Boris schaute sie mit großen Augen an, denn er kam langsam aus der Welt der Philharmonie in die Außenwelt zurück: “Das ist eine gute Idee, Fräulein Vera. Von wann ab haben Sie sich denn freigenommen? Ich frage deshalb, weil mich Frau Lydia Grosz, die Schwester des Dirigenten, zum Nachmittagstee zwischen fünf und sechs in ihr Haus in der Pesulski Straße eingeladen hat.” Vera: “Dann verkehren Sie bereits in der großen Gesellschaft, denn diese Dame ist durch ihre Leitartikel in verschiedenen Zeitungen gefürchtet und durch ihre Wohltätigkeit für die Waisenkinder in Warschau bekannt und geachtet. Um ihre Frage zu beantworten, ich habe mir ab zwei freigenommen.” Boris: “Dann haben wir einige Stunden Zeit für einen Stadtbummel, den ich gern mit Ihnen unternehmen würde.” Vera: “Nur wenn es Sie nicht überfordert, Boris Baródin, denn Sie müssen sich für das Konzert schonen. Da will ich Sie nicht strapazieren.” Boris: “Das tun Sie ganz und gar nicht. Ein Rundgang durch die Stadt mit Ihnen, daran hatte ich letzte Nacht schon gedacht.” Vera: “Gut, dann treffen wir uns halbdrei draußen vor dem Eingang. Nun vergessen Sie das Mittagessen nicht.”
Er hatte sich frisch gemacht und traf halb drei Vera, die etwas abseits vom Hoteleingang auf ihn wartete. Sie hatte sich ein olivgrünes Kleid angezogen, das über den Knien endete und die taillenbetonte Schlankheit mit den Wölbungen ihrer Brüste auf das Vorteilhafteste betonte. Sie war etwa einen halben Kopf kürzer als Boris. Sie erwartete ihn mit dem Lächeln der Zuneigung, als Boris auf sie zuging. “Ich freue mich sehr, dass wir uns sehen und einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen.” Boris: “Das freut mich auch, dass wir das zusammen tun.” Vera: “Gehen wir geradeüber den Platz, dann sind wir am ehesten in der Innenstadt, wo es schöne kleine Straßencafés gibt.” Boris: “Sie geben die Richtung an, Vera, und ich folge Ihnen.” Vera lachte: “Wir gehen aber schon nebeneinander und nicht hintereinander, damit die Leute sich keine falschen Illusionen machen.” Boris: “Abgemacht, anders hatte ich es auch nicht vor mit Ihnen.” Sie gingen einige Straßen und Nebenstraßen, wobei Vera einige Altbauten erklärte, die eine Geschichte hatten, von denen viele nach dem Kriege restauriert wurden. “War Warschau sehr zerstört?”, fragte er. Vera: “Die Innenstadt war fast völlig von den Deutschen zerbombt worden. Was dann noch stand, wurde von Panzergranaten zerschossen.” Boris: “Davon kann man heute kaum etwas sehen.” Vera: “Mit dem Wiederaufbau der Stadt wurde fünfundvierzig begonnen. Wie mir mein Vater sagte, dauerte es mehr als zehn Jahre, bis der Stadtkern wieder so war, wie er vor der Zerbombung ausgesehen hatte.” Boris: “Da stehen ja wunderbare alte Häuser. Denen sieht man nicht an, dass sie zerbombt oder zerschossen worden waren.” Vera: “Da haben die polnischen Baumeister und Handwerker ihren ganzen Stolz darangesetzt, dass Warschau wieder die Perle an der Weichsel wurde.” Boris: “Sie haben eine großartige Arbeit geleistet.” Von einer kleinen Nebenstraße mit den vielen kleinen Geschäften kamen sie auf die “Straße des Widerstands”, eine breite Allee mit alten Bäumen zu beiden Seiten, hinter denen sich Banken, Ministerien und städtische Verwaltungsgebäude entlangstreckten. Sie hatten die Innenstadt erreicht und gingen Richtung Altes Rathaus, einem restaurierten, historischen Altbau des polnischen Barock. Vom Rathausplatz, von dem einige Straßen und enge Gassen wegführten, gingen sie in eine der Gassen, in der ein dichter Passantenverkehr herrschte. Sie gingen auf das erste Straßencafé zu, das bereits gut besucht war. Vera: “Was halten Sie davon, wenn wir hier die Tasse Kaffee trinken?” Boris: “Einverstanden. Es ist ein hübsches kleines Café mit Altstadtatmosphäre.”
Читать дальше