»Leonard, das ›spurlos‹ ist der Beweis für die Unschuld von Pierre Hobart! Der Mord wurde vom Dorf aus gesehen hinter der Brücke verübt, dort gibt es aber nur die Spuren von Charlotte Hewitt. Pierre Hobart kam wie sie vom Dorf, seine Spuren beweisen es. Er musste also ebenfalls über die Brücke, wenn er sie dahinter erschlagen wollte. Aber er ging nicht über die Brücke, sondern direkt ins Wasser – verdammt noch mal, darauf hätte doch jemand kommen müssen!« Sie setzte sich. »Totschlag dürfen wir damit ausschließen, weil der Mörder so spurlos agierte, wie das nur bei perfekter Planung denkbar ist. Ein perfekter Mord aber muss einen Grund haben und das heißt, Charlotte Hewitt war für irgendjemanden so gefährlich, dass er sie tötete – da alle Zeugen ratlos waren, warum ausgerechnet ihr ein solches Unglück zugestoßen ist, wage ich zu schließen, dass sie ein umgänglicher, friedlicher Mensch gewesen ist. Die Gefährlichkeit eines solchen Menschen kann nur in seinem Wissen liegen. Sie wusste etwas, das nur sie allein wusste – und der Mörder…« Olivia seufzte leise: »Immerhin löst sich aus der irritierenden Simplizität der Anfang einer Geschichte…«
Leonard runzelte die Stirn: »Diese Mrs Hewitt war verheiratet. Ist es nicht das Nächstliegende, mit dem Partner über seine Gedanken zu reden? Wenn sie etwas Belastendes über jemanden gewusst hat, wird sie es zuerst mit ihrem Mann besprochen haben. Und er hätte spätestens nach dem Mord gewusst, wie belastend das Wissen seiner Frau für die fragliche Person gewesen ist. Kannst du dir denken, warum er seinen Verdacht der Polizei nicht mitgeteilt haben sollte?«
»Eher nein… Vielleicht hat er es doch nicht gewusst. Über das Verhältnis der Ehepartner zueinander wissen wir nichts.«
»Stimmt.«
»Trotzdem ist dein Einwand berechtigt – was für Gründe könnte es noch geben, einen friedlichen Menschen zu erschlagen?« Die beiden knobelten, bis ihre Mägen sie zum Abendessen in die Küche trieben.
Der folgende Sonntag war nebelverhangen und halbwegs trocken. Olivia und Leonard hatten einen langen ruhigen Spaziergang durch die an Landschaftsparks erinnernden Teile von Kew Gardens gemacht. Geschützt unter den Baumriesen blühten dort die letzten wilden Alpenveilchen, die altrosa Glocken zu Boden gebeugt von den dicht an dicht auf ihren Blüten sitzenden winzigen Nebelperlen. Nach einem kurzen Imbiss hatten sich die beiden an ihre Schreibtische verteilt. Dort saß Olivia noch über Bücher gebeugt, als kurz nach sechs das Telefon läutete. Es war Laureen Gaynesford. Aus der Art, wie sie sich meldete, hörte Olivia ihre persönliche Betroffenheit hinter der Distanziertheit heraus, das gefiel ihr.
»Wissen Sie, dass Sie mir über den jungen Mann selbst fast gar nichts mitgeteilt haben?«
»Das können wir sofort morgen nachholen, am besten im Gespräch mit ihm selber. Hätten Sie dazu Zeit?«
»Wo steckt er denn in Gewahrsam?«
»Hier in London.«
»Einverstanden. Gehen wir morgen Vormittag zu ihm.«
»Heißt das, Sie werden mir helfen?«
»Morgen schaue ich mir den jungen Mann an, wir werden mit ihm reden und anschließend noch einmal nachdenken. Dann werde ich mich entscheiden.«
Unter den großen Bäumen in Kew war Olivia die ganze Geschichte eher wie ein naturwissenschaftliches Rätsel vorgekommen, für das sie nicht zuständig war. Also hatte sie beschlossen, sich den Hauptakteur aus Hilfsbereitschaft und ein wenig Neugier anzuschauen und abzuwarten, ob der Fall dabei ein Rätsel blieb oder dem zaghaften Anfang einer Geschichte weiteres Material hinzufügte.
So fand sie sich jetzt folgerichtig hinter Gittern. Ihr gegenüber stand ein eher kleiner, kräftiger Mann von Ende zwanzig mit der braunen, beinahe gegerbt wirkenden Haut jener Menschen, die sich vorrangig im Freien aufhalten Sein Gesicht war gut geschnitten und offen, nur die Augenbrauen setzten so nah am Nasenbein an, dass es Olivia wie eine unpassende Verengung dieses klaren Gesichts vorkam. Lady Laureen begrüßte Mr Hobart aufmunternd. Er antwortete höflich, sah jedoch gleich darauf erwartungsvoll zu der fremden Besucherin hinüber.
»Ich habe heute Miss Lawrence mitgebracht. Miss Lawrence, darf ich Ihnen Mr Pierre Hobart-Varham vorstellen.« Sie gaben einander die Hand, anschließend setzten sie sich an den einfachen Holztisch, Olivia und Pierre Hobart einander gegenüber, Laureen an die Schmalseite; keinen Moment ließ der Gefangene Olivia aus den Augen, als sei neu erwachte Hoffnung mit ihr eingetreten, die er unbedingt festhalten wollte.
»Mr Hobart«, fuhr Laureen fort, »Miss Lawrence fährt in den nächsten Tagen beruflich nach Norfolk, sie wird dort Recherchen für einige literarische Artikel machen und in die Gegend von Windermere Market kommen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihr von unserem Problem zu erzählen und sie so weit dafür zu interessieren, dass sie jetzt vor Ihnen sitzt.«
»Will sie über mich schreiben?« seine Augenbrauen schoben sich vollends zusammen.
»Nein, nein… Miss Lawrences Hauptgeschäft ist die Literatur, mit detektivischen Nachforschungen hat sie also nicht das mindeste zu tun. Andererseits wird sie sich dort oben umsehen und mit den Menschen reden; was bei solchen Gesprächen abfällt, kann man einfach nicht wissen. Sie verstehen?«
Sein Gesicht glättete sich wieder und Olivia fragte sich, ob der junge Mann in seiner neubelebten Hoffnung nicht mehr verstand, als gesagt wurde. »Mr Hobart«, versuchte sie einen leichten Schutzzaun zu ziehen, »es ist vollständig dem Zufall überlassen, ob ich in Ihrer Sache etwas Nützliches höre. Aber um dem Zufall eine Chance zu geben, brauche ich ein Netz, in dem Informationen hängen bleiben könnten. Bitte, erzählen Sie mir, warum Sie bei Ihrem Onkel zu Besuch waren.«
»Tja, warum kam ich nach Norfolk? Letztlich nur, weil Onkel Jonathan unser einziger Verwandter in England ist.«
Olivia sah zu Laureen und erhielt die umgehende Ergänzung: »Anwalt Hobart heißt Jonathan mit Vornamen.«
»Ich verstehe.« Ihre Aufmerksamkeit wanderte zurück zu dem jungen Mann.
»Ich kam aus Südafrika hierher, um dieses Land ein wenig kennenzulernen und vor allem, um nach Wegen zu suchen, das Obst, das ich anbaue, hier auf den Markt zu bringen.«
»Vielleicht holen Sie als erstes etwas in ihrer Familiengeschichte aus«, schlug Olivia vor.
»Wenn Sie das nicht langweilt?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Mein Großvater und Onkel Jonathans Vater waren Brüder, die Familie der Hobart sitzt seit immerhin zweihundert Jahren in Windermere Grove. Mein Großvater war ein abenteuerlustiger junger Mann, der mit dem Geld, das er für eine altmodische Kavalierstour durch Europa bekam, die halbe Welt bereiste. So kam er schließlich nach Südafrika. Er blieb dort einige Jahre, bevor er nach Norfolk zurückkam, seine Zukunftsaussichten zuhause prüfte und mit dem Einverständnis seines Vaters und einem großzügigen Startkapital nach Südafrika zurückkehrte. Nördlich der Karoo, einer ziemlich regenarmen Steppe, die er sehr liebte, ließ er sich nieder und wurde im Laufe der Zeit einer der erfolgreichsten Schafzüchter der Gegend. Er kehrte nie nach England zurück. Auf dieser Schaffarm wuchs mein Vater zusammen mit einem älteren Bruder und zwei Schwestern auf. Onkel Jonathan besuchte seine Verwandten 1961, bevor er nach Kanada ging, um Jura zu studieren.«
Pierre Hobart hielt inne. Als Olivia schwieg, fuhr er fort: »Mein Vater verliebte sich in die Schönheit der blauen Tafelberge am Kap und in die Tochter eines Weinzüchters. Die beiden heirateten, er erlernte die Weinzucht und alles, was sonst zur Führung eines großen Gutes gehört und führt heute die Arbeit seines Schwiegervaters weiter.«
»So kommt der Name Varham ins Spiel«, warf Laureen ein.
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