„Lucel! Was machst du da oben? Komm sofort herunter!“, rief Selena aufgeregt, war jedoch, noch während sie sprach, auch schon dabei, ihm nach zu klettern. Dank der Tunika und der Hose, die sie anstelle ihres Kleides trug, war sie geschwind neben Lucel und sie sahen gemeinsam der Sonne dabei zu, wie sie die Welt in ein wunderschönes Rosarot tauchte.
„Wir müssen runter, solange wir noch etwas sehen können“, sagte Selena, während sie ihre Augen nicht von dem Schauspiel losreißen konnte.
Lucel stieg als Erstes hinab und half Selena herunter.
„Jetzt wissen wir, wo Westen ist und wenn wir bis morgen Mittag warten, auch wo Norden“, sagte Lucel und verlor die Balance, als Selena in freudig ansprang.
„Aber was machen wir solange?“, fragte Selena, als ihr Magen Lucel laut anknurrte.
„Essen, schlaffen, essen?“, erwiderte Lucel mit einem verschmitzten Lächeln.
„Wie macht man ein Feuer?“, fragte Selena und schaute ihn erwartungsvoll an.
Lucel rieb sich den Kopf. Er hatte seinem Vater immer nur beim Feuermachen zugeschaut. Selbst entzündet hatte er noch nie eins. Wenn sie auch alles dabei hatten, was man auf Reisen brauchte und mehr, fehlte es ihnen am Essentiellen: dem Wissen.
Selena runzelte wieder die Stirn, kramte in ihren Beuteln und holte triumphierend zwei Steine heraus, schlug sie so fest aneinander, dass Funken sprühten und wieder verlöschten. Aufgeregt sammelte Selena Gras, kleine Äste und Blätter.
Nach etwa einer Stunde brannte ein kleines Feuer und verlosch nach wenigen Minuten. Nach der Hälfte der Zeit brannte ein neues Feuer und es gelang ihnen es so lange am Leben zu halten, bis sie ihr Abendmahl zu sich genommen hatten. Dann schliefen sie beide, in ihre Schlafsäcke gewickelt, ein.
Ungläubig besah sich der Mann in den Schatten das Schauspiel. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, Wache zu halten, schliefen diese Kinder seelenruhig nicht einfach in der Wildnis, nein, im Dunkelwald. Hatte man ihnen denn nichts beigebracht? Selbst Feuermachen konnten sie nicht.
Der Mann kratzte sich am Bart. Er erinnerte sich nicht daran, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Gebadet hatte er auch schon länger nicht. Ein Weg, sich zumindest das Kleintier vom Leib zu halten. Seine Kleidung war zerrissen und dreckig, seine Schuhe hatte er vor Jahren weggeschmissen. Wann hatte er das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen? Konnte er überhaupt noch sprechen? Als er es versuchte, kam nur ein Krächzen heraus.
Vielleicht würde ein Schrecken am Morgen die beiden Jungspunde lehren, vorsichtiger zu sein ...
Lucel räkelte sich, als die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht berührten und öffnete schläfrig die Augen. Sein Rücken, der weiche Federbetten gewöhnt war, schmerzte ein wenig.
Dann durchriss ein Schrei die Luft.
Lucel sprang auf, sah sich überrascht um und entdeckte eine auf der Erde kniende Selena. Tränen des Entsetzen standen ihr in den Augen. Lucel eilte zu ihr und nahm sie in den Arm.
„Hat dich ein Tier erschreckt?“, fragte Lucel verwundert, während er ihr übers Haar streichelte.
Sie schüttelte den Kopf, versuchte mehrmals Luft in ihre Lungen zu bekommen, und heulte schließlich stammelnd los: „Pferde ... Gepäck ... alles weg!“
„Quiver und Salop sind bestimmt nicht weit. Ein Tier hat sie sicher aufgeschreckt und sie haben sich losgerissen.“ Hatten sie die Pferde überhaupt angebunden? Lucel war sich nicht mehr sicher.
„Von Tieren erschreckt? Ist das deine Antwort auf alle Probleme? Und das Gepäck? Haben sie das auch mitgenommen?“, rief Selena verärgert, schubste Lucel um und warf ihm einen giftigen Blick zu, als er leise erwiderte: „Möglich wäre es schon.“
Selena lief mit tränennassen Wangen im Kreis herum, sank dann auf die Knie und heulte so laut, dass die Bäume erzitterten: „Wir werden sterben! Verhungern, verdursten. Von wilden Tieren zerfleischt werden. Ich will noch nicht sterben!“
Ein verächtliches Schnauben kam aus den Bäumen und ihr Gepäck landete mit einem Plumps auf dem Boden. Ihm folgte ein menschenähnliches Wesen.
Selena und Lucel starrten es verwundert an. Es öffnete seinen Mund und ein Krächzen kam heraus. Dann räusperte es sich und sprach mit heiser Stimme: „Ich wollte euch eine Lektion erteilen, aber dein Geheule und Geschreie wird den ganzen Wald aufwecken. Es gibt Wesen, die man besser schlafen lassen sollte.“
Selena eilte zu dem Gepäck, sammelte es auf, drückte es an die Brust, warf dem Wesen einen giftigen Blick zu und rief aufgeregt: „Was hast du mit Quiver und Salop gemacht, du Unmensch!“
„Unmensch?“ Das Wesen kam ganz nahe an Selena heran und keifte: „Wenn ich ein Unmensch wäre, hätte ich euch im Schlaf die Kehle aufgeschlitzt und eure Leichen den Wölfen, Bären und Ghröfle überlassen.“
Selenas Augen füllten sich mit Angst und ihre Hand fuhr zu ihrem Hals.
„Da ich aber kein Unmensch bin, habe ich euch lediglich eine Lektion erteilt. Wer euch zwei Grünschnäbel so unvorbereitet auf die Welt losgelassen hat, will wohl euer schnelles Ableben“, sagte der Mann mit krächzender Stimme, als hätte er eine lange Zeit seine Stimmbänder nicht benutzt. Seine Haare hingen ihm ins Gesicht und ließen nichts erkennen außer Schmutz.
Ein furchtbarer Gestank stieg Selena in die Nase. Sie hielt sie sich zu und drehte sich angewidert weg.
„Kehrt zurück zu eurem kuscheligen Nest und Mama und Papa. Kinder, wie ihr, haben nichts in der Wildnis verloren.“ Er schnaubte laut.
Selena drehte sich wütend mit zugehaltener Nase um und öffnete den Mund, um dem frechen Kerl die Meinung zu geigen, als Lucel herantrat.
„Wir waren wirklich recht unvorsichtig und sind unerfahren. Wir danken Euch für Eure gütige Lektion und erbitten die Herausgabe unserer Pferde. Wenn Ihr uns noch sagen könntet, wo Norden liegt, seht Ihr uns nie wieder. Seid jedoch unserer ewigen Dankbarkeit versichert.“
Selena vergaß sich die Nase zuzuhalten und starrte Lucel ungläubig an. Sie hatte ihn noch nie so viel auf einmal sagen hören und dann auch noch so höflich!
Das Wesen, nach Selenas Beobachtungen wohl ein Mann, wich ein paar Schritte zurück, verkrallte die linke Hand in dem zerrissenen Stoff an seiner Brust und starrte Lucel entgeistert an. Dann schallte ein freudiges Lachen durch den Wald. Die gebückte Gestalt richtete sich auf.
„Gut gesprochen, Grünschnabel! Wie heißt du?“ Seine Stimme war nun tief und angenehm, das Krächzen war völlig verschwunden.
„Lucel. Das ist meine Schwester Selena“, antwortete er und blickte den Mann unverwandt an. Etwas an ihm zog ihn an, erweckte eine Unruhe in seiner Brust, die sonst nur Müdigkeit kannte.
„Nun gut, wartet hier! Ich hole eure Pferde und ein paar meiner Sachen. Ich bringe euch durch den Wald“, sagte der seltsame Fremde und verschwand zwischen den breiten Stämmen der hohen Bäume.
Der Weg war lächerlich kurz und lächerlich einfach. Selena sah nach drei Stunden Fußmarsch, während dem sie die Pferde am Halfter führten, bereits den Waldrand. Lucel schien keine Scham zu kennen und bedankte sich bei dem Fremden, der ihnen nicht einmal seinen Namen genannt hatte. Dieser nickte einfach nur bei Lucels Worten und machte keine Anstalt umzukehren.
„Ich werde euch bis zur nächsten Stadt begleiten. Wollte eh meine Vorräte aufstocken“, sagte der Mann und kratzte sich am Kopf.
„Was?“, rief Selena überrascht und gar nicht erfreut.
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