Lucel erstarrte bei der Unhöflichkeit seiner Schwester und stieß sie mit dem Ellenbogen an.
„Was denn? Er stinkt! Egal wohin ich meine Nase drehe, rieche ich nur seinen Gestank! Ich halte das keine Stunde länger aus, ohne mich zu übergeben“, rief sie aufgebracht mit hochrotem Kopf.
Lucel rümpfte ebenfalls leicht die Nase, aber das Entsetzen in seinen Augen über ihre Worte grub sich in Selenas Herz und sie schaute peinlich berührt weg.
„Wir kennen nicht einmal seinen Namen“, murmelte sie wie ein bockiges Kind.
Zu ihrer Überraschung lachte der Fremde und sagte: „Wenn das die einzigen Einwände sind, lässt sich das schnell beheben. Ihr könnt mich Aren Leshin nennen. Und was den Geruch betrifft, nicht weit von hier fließt ein kleiner Bach, wenn ihr mir zwanzig Minuten gebt ... “
„Mach eine Stunde daraus!“, erwiderte Selena, setzte sich auf den Boden, wo sie stand, und holte etwas zu Essen aus ihrem Rucksack hervor.
Lucel schüttelte den Kopf, suchte einen Platz, um Quiver und Salop anzubinden, und gesellte sich zu ihr, auch wenn er nichts aß. Er hatte sich schon immer gefragt, wo Selena all das Essen nur verstaute, das sie in sich hineinschaufelte.
Sie war rank und schlank, nur an gewissen Stellen hatte sie in den letzten Jahren zugenommen. Seine Augen irrten zu ihrem Busen, seine Wangen röteten sich und Lucel wandte schnell den Blick ab. Wuchsen alle Mädchen, die viel aßen, nur dort? Er schüttelte den Kopf. Im Dorf hatte er schon dicke Frauen gesehen, die weniger aßen als Selena.
Etwas musste mit ihrem Körper nicht stimmen.
Von dem vielen Denken angestrengt, legte Lucel sich hin, schaute in den blauen Himmel und schlief nach wenigen Minuten ein.
Doch kaum hatte er die Traumwelt betreten, rüttelte Selena an ihm. Ihre Hände zitterten. Ihr Atem ging vor Aufregung schneller. Alarmiert sprang Lucel auf und wünschte sich, er hätte eine Waffe mitgenommen. Wieso hatte er keine Waffe mitgenommen? Auch wenn er nicht damit umgehen konnte, würde sie wenigsten ein paar Gauner abschrecken.
Ein Mann in einer blauen Tunika, die etwas aus der Mode gekommen war, aber perfekt an ihm saß, stand vor ihnen. Er trug schwarze Stiefel und noch nie gesehene Augen glitzerten ihm in der Farbe von Bernsteinen freudig entgegen. Nasse schwarze Locken waren hinter die Ohren gestrichen, der Bart durchnässte den Brustbereich der Tunika. Doch es schien den Mann wenig zu stören.
„Die schlimmste Dreckschicht ist runter, umgezogen habe ich mich auch. Ich hoffe, dass meine Anwesenheit euch nicht mehr ganz zuwider ist.“
„Aren?“, fraget Selene ungläubig.
„Das bin dann ich. Aren Lowin“, erwiderte der Mann lachend und warf sich sein Gepäck über die Schulter.
„Hast du nicht Leshin gesagt?“, fragte Selena verwirrt.
Aren gefror in der Bewegung, lachte etwas zu laut und erwiderte: „Du musst dich verhört haben. Aren Lowin ist mein Name.“
„Und du willst wirklich nicht reiten?“, fragte Aren verwundert. Selena schüttelte stumm den Kopf. Sie hatte ihm schon zehn Mal gesagt, dass sie lieber zu Fuß ging. Ihr Blick schweifte neidisch zu Lucel. Ob die Anatomie bei Männer so viel anders war als bei Frauen? Unaussprechliche Stellen an ihrem Körper schmerzten und waren wund. Griesgrämig sah Selena geradeaus. Ihr Blick bohrte sich in den Boden.
Sie waren nun sieben Tage unterwegs und sahen weit und breit nichts außer Bäume, Sträucher, Staub und Erde. Diese Reise brachte das Schlimmste in ihr hervor. Sie hatte sich vorgenommen, eine Lady zu sein. Genügsam, höflich und zuvorkommend. Doch seit sie aufgebrochen waren, hörte sie sich nur keifen. Serena aus der Geschichte hatte sich nie beschwert, hatte nicht viel geredet, war schön und klug. So wollte Selena sein und kein Bauerntrampel wie ihre ...
Sie dachte den Satz nicht zu Ende und ihre Wangen färbten sich rot. Wie konnte sie nur so über ihre eigene Mutter denken? Sie war ein furchtbarer Mensch. Vor sich hin grummelnd, ließ sie ihren Blick über den schmutzigen Weg wandern und alle schlechte Laune verflog.
Eine Stadt!
Sie hatten endlich eine Stadt erreicht.
Niedrige Holzzäune umringten einstöckige Häuser, deren Dächer mit Stroh gedeckt waren. Jedes Häuschen hatte einen Blumengarten vor der Tür und ein Gemüsebeet im Hinterhof. In dem Hof eingezäunt standen mal Ziegen, mal Hühner. Manchmal auch eine Kuh oder ein paar Schweine.
Je weiter sie in die Stadt hineingingen, desto kleiner wurde der Hof und desto höher die Gebäude. Bald schon sah man Backstein und Ziegel anstatt Holz und Stroh. Die Zäune und die Höfe verschwanden ganz. Gaststätten und kleine Läden nahmen den Platz von Gemüsebeeten und Tieren ein. Alles wurde gedrängter und hektischer. Smalt war keine große Stadt, hatte nicht einmal eine Stadtmauer. Doch für Selena und Lucel, die ihr Heimatdorf noch nie verlassen hatten, war es die erste menschliche Siedlung, die sie zu Gesicht bekamen.
Bald fanden sie auch einen kleinen Gasthof, der Zimmer vermietete. Und nach einem herzhaften Abendmahl legte sich Selena auf das weiche, fast saubere Bett und schlief in dem Moment ein, als ihr Kopf das nicht mehr ganz weiße Kissen berührte. Sie vergaß sich darüber zu beschweren, dass sie sich mit zwei Männer den Raum teilen musste, und schlief in voller Montur ein. Sie bemerkte nicht einmal, wie Lucel ihr die Stiefel auszog und sie zudeckte.
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Nadine saß in ihrem goldenen Käfig. Der Sessel war bezogen mit dem weichsten Leder, das man sich vorstellen konnte. Weiß war er, wie die Unschuld. Auch die Seidenbettwäsche und der Baldachin aus der schönsten Spitze mit Blumenmuster umhäkelt waren weiß. Das Bett selbst war aus dunklem Kirschholz, wie auch die Kommode, die Stuhlbeine, der Tisch und das Bücheregal. Auf Nadines Schoß lag ein Buch über Magie. Sie stand auf und es glitt lautlos zu Boden, federte an dem Fell, das fast den ganzen Boden bedeckte, lautlos ab.
Wie immer waren Nadines Füße nackt, doch ihre Fußsohlen hatten die ersten Freuden der Weichheit vergessen. Sie erinnerten sich noch kaum an das Glück, das sie erfüllt hatte, als Halif ihr das Anwesen zum ersten Mal gezeigt hatte. Ein eigenes Königreich, nur für sie beide, in dem sie ihre kleine Familie großziehen konnten.
Familie .
Nadines schönes Gesicht verzerrte sich in Abscheu. Wann war es passiert? Wann war aus ihrem Zuhause ein Gefängnis geworden und aus Liebe Einengung und Abneigung? War da noch Liebe für Halif in ihr? Oder war es nur Mitleid, das sie an ihn band? Kalte Augen blickten in den Spiegel, die noch vor wenigen Jahren erfüllt waren mit Glück und Liebe. Jetzt sah sie in ihnen nur die Kälte ihrer Seele.
Ihre Hand fuhr über ihren flachen Bauch. Er hatte es noch nicht bemerkt und wenn es nach ihr ginge, würde er es nie erfahren. Nicht nachdem, was er mit ihrem letzten Baby gemacht hatte. Ihr Gesicht verzerrte sich mit Hass, dann kamen die Schuldgefühle. Er hatte mit dem Baby das Gleiche getan wie mit Serena. Die Zeit angehalten, als es seinen ersten und letzten Atemzuge getan hatte. Es war nicht lebensfähig gewesen und auch ihre Magie hatte es nicht retten können.
Nadine glitt zu Boden. Ihr Körper zitterte und sie krallte ihre Fingernägel in die Oberarme. Wozu hatte sie diesen verdammten, göttlichen Funken in sich? Sie konnte eine neue Rasse erschaffen, doch ihrem eigenen Kind kein Leben einhauchen. Sie hatte sich die Schuld gegeben. Ihr Gesicht verdunkelte sich. Belogen hatte sie sich und damit das Leben ihres Babys verwirkt. Das würde ihr kein zweites Mal passieren.
Nadine richtete sich auf.
Halif hatte sich wieder in seinem Labor eingeschlossen und würde bis spät in die Nacht nicht nach ihr sehen. Zu sehr war er mit seinen widerwärtigen Experimenten beschäftigt. Eine kleine Stimme, die sich an den letzten, irrationalen Hoffnungsschimmer klammerte und an die Erinnerungen der tiefen Liebe, die Nadine für Halif empfunden hatte, flüsterte ihr zu: „ Er macht es für dich, für euer gemeinsames Kind .“
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