„Er macht es aus Angst und Egoismus. Der Zweck heiligt nicht die Mittel!“, sprach Nadine gegen die leise Stimme laut an. Halif hatte unsagbare Dinge getan, die nicht verziehen werden konnten. Nicht verziehen werden durften. Ihr Herz zog sich zusammen. Nadine hatte Lucel um Verzeihung gebeten. Ob er die Kraft hatte, die ihr zu fehlen schien?
Ihr Handspiegel vibrierte. Es war so weit. Sie blickte hinein und eine blonde Schönheit strahlte ihr wie die Sonne entgegen. Wäre sie doch nur die Sonne und würde mit ihrer Güte über sie alle wachen. Doch die Sonne über den Landen war verseucht. Verseucht wie die Erde.
Phynissia blickte in die kalten, harten Augen, die ihr aus der glatten Wasseroberfläche entgegenstarrten. Sie schloss die Lider und dachte an liebende Augen voller Glück. Ein naives Herz, das selbst in Todesgefahr um die Seele anderer betete. Sie hatte so viel in ihnen gesehen und geglaubt, die Welt besser zu verstehen. Auch jetzt war ihr Herz erfüllt von Verständnis. Phynissia verstand, warum die Götter ihre eigene Schöpfung vernichten wollten. Lebewesen, die so etwas Reines und Vollkommenes wie Nadines Seele verdunkeln konnten, hatten nicht das Recht zu existieren.
Dann öffnete Phynissia ihre Augen und beschrieb einen Kreis in der Luft, murmelte Worte einer längst vergessenen Sprache. Sie hielt inne und fragte ein letztes Mal leise, kaum hörbar: „Bist du dir sicher, dass du das willst?“
Nadine nickte, die Augen steinhart und entschlossen.
„Er könnte dich entdecken. Das nächste Kraftfeld werde ich nicht durchstoßen können. Er hat in den Jahren viel gelernt und ist stark geworden.“
Nadine nickte ein zweites Mal.
Phynissia dachte an den Mann, den sie einst vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Kein Fünkchen Macht in sich, hatte er es doch geschafft, sich zum mächtigsten Magier der Landen aufzuschwingen. Auf eine Art, die Phynissia nicht verstand, war er mächtiger als sie, vielleicht sogar mächtiger als Lucel. Ihm war es gelungen, die Kraft ihres Enkels einzusperren, sie dazu zu bringen, sich selbst zu verschlingen.
Ein brillanter Mann, ein Genie. Der alles tat für die Frau, die er liebte.
„Wenn er weder dich noch euer Kind hat, wird er dem Wahnsinn verfallen“, und sie würden ein Ungeheuer, schlimmer als Morphis es je hätte werden können, auf die Welt loslassen.
„Halif ist bereits wahnsinnig. Er hat unser Kind mit den Ausdunstungen seiner Experimente vergiftet.“ Nadine wurde von Husten geschüttelt, wob einen Stillezauber um sich und wartete, bis der Anfall vorüberging. Die Hand, die sie sich vor den Mund gehalten hatte, war rot gefärbt. Nadine zitterte am ganzen Leib. Sie war schuld an dem Tod ihres Kindes. Sie hatte alle Anzeichen ignoriert, weil sie an Halif hatte glauben wollen.
Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen.
Sorgenvoll blickte Phynissia auf das Kind des Lebens, das von Tod umgeben war. Sie atmete tief ein und aus und sagte: „Geh! Du hast fünf Minuten, bevor er dich entdeckt. Wenn er in seine Arbeit vertieft ist, vielleicht länger.“
Nadine nickte und machte einen Schritt nach vorne.
Die Luft um sie herum verschwamm wie eine senkrecht stehende Wasseroberfläche. Der Raum verflüssigte sich, bewegte sich und das verhasste Weiß wandelte sich in Schwarz. Von Dunkelheit umgeben, wusste Nadine, wo sie hin musste, auch wenn sie den Raum erst einmal betreten hatte.
Mit dem Mantel der Stille um sich gelegt, ging sie an den Regalen vorbei, blickte nicht zu den Gläsern, in deren Flüssigkeit die Zeugnisse von Halifs Gräueltaten schwammen. Ihr war nur eines wichtig. Auf einem kleinen Altar stand ein Glasbehältnis mit goldenem Deckel. Nadine griff mit fester Miene, aber zitternden Händen danach. Versuchte das Geräusch, als lebloses Fleisch gegen Glas stieß, zu ignorieren. Die Bewegung der Flüssigkeit beim Gehen nicht zu bemerken.
Die Luft flimmerte und Nadine betrat durch Wasser die Dimension der Seraflyn. Die Königin erwartete sie mit einem traurigen Lächeln. Nadine setzte das Glasgefäß vorsichtig ab, ging zu Phynissia, sank zu ihren Füßen und weinte. Entließ all die Tränen, die sie tief in ihr Herz eingeschlossen hatte, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen.
♣
Eine dunkle Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, beobachtete, wie die Frau hocherhobenen Hauptes durch das Portal schritt, das er noch nicht hatte nachbauen können. Noch nicht. Er zog den Mantel der Dunkelheit ab, schüttelte sein ergrautes Haar und bernsteinfarbene Augen leuchteten im Dunkeln, als er leise die Worte sprach: „Ich hatte dich nicht so gierig in Erinnerung, meine Geliebte. Musst du mein Herz stehlen, wo mein Verstand mich längst verlassen hat und mir auch noch meinen Sohn nehmen?“ Halif trauerte. Wut war nicht in seinem Herzen, nur Schmerz und neugeborene Hoffnung.
Nadine war auf der anderen Seite der Dimension sicherer und glücklicher. Er hatte schon so lange nicht mehr ihr Lächeln gesehen, aus dem er immer Kraft geschöpft hatte. Sie war dort besser aufgehoben und er konnte ohne falsche moralische Fesseln arbeiten. Er war so kurz davor, das Geheimnis zu ergründen. Sein Körper erzitterte kurz, als der Gedanke ihn wieder ergriff. Halif hatte alle Tabus gebrochen, hatte sich sogar an Nadine vergangen.
Ob sie ihm je verzeihen würde?
Jetzt war sie aus seiner Reichweite, vor ihm sicher. Seine verbliebene rechte Hand zitterte und der Stumpf, der von seiner linken übrig war, schmerzte, erinnerte ihn an seine Sünden und Verfehlungen. Halif war zu dem geworden, vor dem er Nadine so sehr hatte beschützen wollen. Sein gebeugter, alter Körper, verpestet durch die begangenen Frevel, schleppte sich zu seinem Arbeitsplatz zurück, hob Säge und Lichtmesser an und schnitt in Fleisch, durchtrennte Haut, Fett, Muskeln und Knochen auf der Suche nach dem Funken des Lebens, dem Kern der Seele und des Körpers.
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