„Könnte es ein Unfall gewesen sein?“, fragte sie.
Matti zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, aber er muss unbedingt in ein Krankenhaus, hier krepiert er uns. Die Wunden müssen versorgt werden.“
Anstatt einen Notarztwagen zu rufen, hatten sie den Mann in das Auto der Brüder verfrachtet und waren zur Notaufnahme gefahren. Dort hatte man sich umgehend dem Schwerverletzten angenommen und die Polizei benachrichtigt. Lukas, Sven und sie selbst waren befragt worden.
Nun saß sie ganz alleine hier im Wartebereich. Die Polizei war wieder weg und sie hatte die Brüder nach Hause geschickt und auch sie hätte jetzt besser in ihrer Wohnung sein sollen. Aber irgendwie war Jen nicht in der Lage. Sie wollte in der Nähe des Mannes bleiben.
Eine weitere Stunde verging, in der nichts geschah. Die Müdigkeit, die sie aufgrund der ganzen Aufregung vergessen hatte, kehrte zurück. Jenna saß auf einer dieser Plastikbänke und ihre Glieder waren so schwer. Nun gut, sie würde sich ein Taxi nehmen und endlich heimfahren. Morgen würde sie zurückkommen und hoffen, dass man ihr Auskunft gab.
„Mein Gott wo warst du denn, warum hast du dich nicht gemeldet?“, wurde sie von ihrer Schwester begrüßt, die im Nachthemd und mit zerzausten Haaren die Tür aufgerissen hatte, noch bevor Jenna den Schlüssel hatte abziehen können.
„Hast du die ganze Zeit gearbeitet? Warum hast du nicht einmal angerufen? Ich habe mir Sorgen gemacht!“, schimpfte sie weiter, als Jen sich Jacke und Schuhe auszog.
„Ich muss ins Bett“, antwortete sie nur und ließ Laura mit offenem Mund stehen.
Jenna stand im Badezimmer und starrte ihr Spiegelbild an. Sie hatte schlecht geschlafen und genauso sah sie auch aus. In ihren Träumen hatte sie der Schmerz in den Augen des Mannes verfolgt. Jen streckte sich selbst die Zunge heraus und griff zur Zahnbürste und Zahnpasta. Sie drückte viel zu viel aus der Tube und die Paste verteilte sich im Handwaschbecken. Man! Sie musste ihre Mutter anrufen! Jenna putzte sich die Zähne und starrte dabei weiter in den Spiegel. Wie es ihm wohl ging? Sie spuckte den Zahnpastaschaum ins Becken und spülte sich den Mund aus. Sie würde nachher ins Krankenhaus fahren.
In der Küche wartete Laura bereits am gedeckten Frühstückstisch.
„Na, ausgeschlafen?“, fragte sie und legte die Tageszeitung zur Seite.
Jenna schüttelte den Kopf, setzte sich und goss sich einen Kaffee ein.
„Ich habe gestern einen Mann angefahren“, sagte sie beiläufig, während sie sich ein Brötchen schmierte.
Als sie abbiss, schaute sie auf und sah, wie Laura sie mit großen Augen ansah
„Du hast einen Mann angefahren? Und das erzählst du mir mal ebenso nebenbei? Gehts dir gut? Ist dir was passiert? Ist ihm was passiert?“
Jen kaute, schluckte runter und trank von ihrem Kaffee.
„Jenna!“, fuhr Laura sie an, „würdest du mir jetzt bitte verdammt noch mal erzählen, was geschehen ist?“
Laura, die große Schwester und Aufpasserin war beinahe hysterisch.
„Mir geht es gut und dem Mann habe ich auch nichts getan, es war beim Ausparken, aber ...“ und Jen erzählte, was geschehen war.
"Oh mein Gott!“ Laura betonte jedes Wort. „Und was nun?“
„Und nun hat die Polizei meine Aussage und meine Personalien und wird sich bei mir melden, wenn noch irgendetwas ist“, antwortete sie. „Ich werde nachher ins Krankenhaus fahren.“
„Soll ich dich begleiten?“
Jenna schüttelte den Kopf, nein, sie wollte dort alleine hin.
Als Jenna die Klinik betrat, musste sie erst einmal überlegen, wo der Mann untergebracht worden war. Ehrlich gesagt hatte ihr der Schock so tief in den Knochen gesteckt, dass sie sich nicht mehr richtig erinnern konnte. Sie war mit dem Fahrstuhl gefahren, zwei Etagen. Also los, in den zweiten Stock. Dort angekommen lief sie einen kurzen Gang entlang und entdeckte den Wartebereich mit den Plastikbänken. Sie sah, ein paar Schritte entfernt, einen Tresen hinter dem eine ältere Krankenschwester über Papiere gebeugt, saß. Jen ging dorthin.
„Entschuldigen Sie bitte“, sprach sie die Schwester an die sofort ihren Kopf hob und sie anlächelte. „Gestern Abend wurde ein Mann hier hergebracht. Er war schwer verletzt und die Polizei wurde hinzugerufen.“
Die Frau nickte. „Darüber weiß ich Bescheid“, antwortete sie freundlich.
„Ich wollte mich erkundigen, wie es ihm geht.“
Die Krankenschwester neigte den Kopf ein wenig. „Sind Sie denn eine Angehörige?“
„Nein, ich habe ihn aber gefunden und her gebracht“, antwortete sie und ärgerte sich im selben Moment über ihre unüberlegte Antwort, nun würde sie sicher nichts erfahren.
„Ich mache mir natürlich Gedanken und möchte gerne wissen, wie es ihm geht“, versuchte sie die Situation zu retten.
Die Frau erhob sich von ihrem Stuhl und kam um den Tresen herum. Sie nahm Jen am Arm und zog sie ein Stück zur Seite.
„Ich darf Ihnen keine Auskunft geben, aber ich kann Sie verstehen. Es geht ihm nicht sehr gut. Die Schnittwunden am Oberkörper sind sehr tief und er hat viel Blut verloren. Er hat eine schwere Brandwunde an der Schulter, Verbrennungen sind eine heikle Angelegenheit, das Infektionsrisiko ist sehr hoch. Er hat heute Morgen das Bewusstsein wiedererlangt. Die Polizei war bereits bei ihm, aber er kann sich an gar nichts erinnern, an überhaupt nichts, er kennt nur seinen Vornamen. Die Polizei ist bemüht, seine Identität zu klären. Ich sage Ihnen das nur, weil er mir leidtut, er hat einiges durchgemacht.“
„Kann ich ihn sehen?“, fragte Jen, irgendwie war es ihr ein Bedürfnis.
„Tut mir leid, nein.“
Jenna senkte den Kopf.
„Sie sind keine Angehörige und er braucht Ruhe. Einige Untersuchungen stehen an. Aber wissen Sie was? Kommen Sie morgen noch einmal wieder, etwa zur selben Zeit. Ich habe Frühdienst bis 14.00 Uhr und werde sehen, ob ich etwas machen kann. Wenn ich mit den behandelnden Ärzten spreche und sie überzeugen kann, dass ein Besuch von Ihnen ihm vielleicht bei seinen Erinnerungen helfen kann, dann geht das vielleicht.“
Jenna bedankte sich und die Krankenschwester begab sich wieder hinter den Tresen. Jen war schon am Gehen, als ihr etwas einfiel, sie ging noch einmal zurück.
„Entschuldigen Sie, verraten Sie mir seinen Namen?“
In der U-Bahn, auf dem Weg zum Institut, kaute sie nervös auf ihren Nägeln herum. Sein Name war Danjal, ein sehr ungewöhnlicher Name und irgendjemand hatte diesem Mann ziemlich viele Schmerzen zugefügt. Krass, dachte sie, was mag der Grund dafür gewesen sein? Und er konnte sich an nichts mehr erinnern. Jen schaute auf ihre Uhr, Mist, sie war viel zu spät dran, hoffentlich nahmen es ihr die Jungs nicht übel.
In Gedanken ging sie durch, was für heute anlag. Sie hatten viel zu tun. Das Forschungsprojekt, für das sie den Zuschlag erhalten hatte, lief nicht wie geplant und sie waren in Verzug. Wenn sie nicht bald Ergebnisse lieferten, würde man ihr die Gelder streichen. Alles, wofür sie die letzten zehn Monate gearbeitet hatten, wäre für die Katz.
Der restliche Tag zog sich wie Gummi. Die Stimmung im Team war schlecht. Für die kommende Woche hatte sich ein Vertreter der Forschungskommission, die ihr die Gelder gewährt hatte, angemeldet. Jenna hatte gehofft mehr Zeit zu haben, aber vielleicht schafften sie es ja bis dahin doch noch ausreichend vorzuweisen.
Sie arbeiteten alle bis zum späten Abend und setzten sich dann auf ein Getränk zusammen. Anfangs hatten sie das häufiger getan, da hatten sie geglaubt genug Zeit zu haben. Matti und Lukas tranken ein Bier, Jenna hielt sich an einer Cola fest, sie wollte mit ihrem Auto nach Hause.
„Weißt du wie es dem Typen geht, den du gestern überfahren hast?“, fragte Sven und nahm einen Schluck aus seiner Flasche.
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