Die Leute atmeten erleichtert auf, als die Wachen endlich weiterflogen. Aber sie hörten nicht auf, zu arbeiten. Niemand wollte noch mehr Ärger provozieren. Kaum waren die sadistischen Glanzhäute jedoch an den drei nächsten Arbeitern in der Menschenkette vorbeigeflogen, brach ein Nyoma, der etwas weiter rechts von Charisa stand, erschöpft zusammen und fiel auf den unebenen, harten Boden. Der nervenaufreibende Zwischenfall war wohl zu viel für sein ausgelaugtes Gemüt gewesen. „Hey, sofort Aufstehen!“, rief einer der beiden Silizoiden, dieses Mal in der Sprache der Menschen, zurechtweisend. Auch in unserer Sprache redete er in einer sehr monotonen Stimmlage. Es war schwierig, irgendeine Form von Emotion herauszuhören, aber nicht unmöglich. Man musste vor allem auf die Lautstärke und die Tonlage des Alien achten. Der überanstrengte Nyoma , der kurz vor der Bewusstlosigkeit stand, versuchte, sich wieder aufzurichten. Aber er konnte es nicht. Er brauchte dringend eine Pause. „Aufstehen, hab ich gesagt!“ Die gereizte Glanzhaut schob sich mit ihren Flügeln vorwärts zu dem Arbeiter, der immer noch am eiskalten Boden lag. „Entweder du stehst auf oder du bist tot. Sofort!“ Doch nun unterbrach Charisa ihre Arbeit und mischte sich ein. „Das würde ich nicht tun. Ihr braucht ihn noch. Der Mann braucht nur Wasser, dann kann er weitermachen.“, verteidigte sie den Nyoma mutig, an dessen Schuppenplatten der Schweiß hinablief. „Wer hat das gesagt?“, rief der Silizoid offenbar wütend durch die ganze Höhle, während er sich schlagartig umdrehte. „Ich.“, entgegnete Charisa, „Wenn ihr einen Arbeiter weniger habt, dann können wir auch weniger Ressourcen abbauen. Also lasst...“ Die Wache unterbrach Charisa in einem aggressiven Tonfall. Ihre Stimme überschlug sich dabei fast. „Geh sofort zurück an die Arbeit und halt dein verdammtes Maul!“ „Ich geh wieder an die Arbeit, wenn ihr dem Mann Wasser gegeben habt! Aber nicht vorher!“
Die Glanzhaut zog nun erneut ihre Waffe. „Geh sofort wieder an die Arbeit und sei still! Oder der nächste Schuss geht nicht daneben!“ Als die Wache jedoch ihre Drohung aussprach, unterbrach ein Gravianer, der eigentlich gerade eine schwere Metallkiste mit Geröll gefüllt hatte, ebenfalls seine Arbeit und stürmte genauso wütend auf Charisa und den Silizoiden zu. Dabei ließ er die Kiste einfach mit einem lauten Knall auf den Boden fallen und der Behälter kippte um. „Wenn du das machst, bist du tot, du dreckiger Bastard!“, rief er zornig. Seine Stimme hallte in der gesamten Höhle wieder. Charisa wurde auf einmal bleich im Gesicht. „Nein, Alectis! Vergiss es!“, rief sie erschrocken. „Okay, ich gehe wieder an die Arbeit und wir tun einfach so, als wäre nichts passiert! Dann sind alle glücklich! Und gib dem Mann bitte Wasser...“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und nahm ihre kräftezehrende Tätigkeit wieder auf. „Glück gehabt.“, murmelte Alectis, der wie jeder Gravianer sehr, sehr kräftig gebaut war. Er packte die herausgerollten Steine wieder zurück in die Kiste und ging weiter seiner Arbeit nach. Charisa wollte nicht, dass Alectis irgendetwas zustößt, schon gar nicht wegen ihr. Sie gab lieber klein bei und hoffte, dass die Wachen den Gravianer in Ruhe lassen würden. Sie stellte sich von Neuem mit dem Gesicht zur Wand und arbeitete weiter. Ihr Herz klopfte so laut wie nur selten. Aber das Nächste, was sie hörte, waren einige Sätze in der Sprache der Silizoiden. Die Wache sagte, dass jemand Wasser holen solle und dieses sollte der Nyoma, der nun erneut versuchte, wieder aufzustehen, bekommen. Charisa war erleichtert, dass sie Alectis in Ruhe ließen. Doch der Silizoid fügte in unterschwellig bösartigem Tonfall noch hinzu: „Is chichrsa Dseroc´hîl, Bad Arksail.“, was übersetzt soviel bedeutete, wie >>Wenn er nochmal umkippt, bringt ihn um<<. Das Wasser wurde gebracht, der Nyoma trank und machte sich schließlich wieder schnellstmöglich an die Arbeit. Die Wachen hatten kurz danach wohl einen Schichtwechsel, denn die fiesen Glanzhäute gingen und dafür kamen andere Silizoiden.
Diese Aliens schienen ihren Job nicht so ernst zu nehmen, wie die vorherigen Beiden. Sie unterhielten sich einfach, blickten ab und zu zu den Humanoiden herüber, aber solange die Menschen bei der Arbeit waren, waren sie diesen neuen Glanzhäuten ziemlich egal. „Das war echt mutig von dir. Das hätte nicht jeder getan.“, sagte Barrex, der links von Charisa stand, leise zu dem jungen Mädchen, ohne den Kopf zu ihr zu wenden oder seine Arbeit zu unterbrechen. Die Terriani drehte sich für eine Sekunde zu der Ablösung der Aliens um, drehte ihren Kopf dann sofort wieder zurück zur Wand. Die Wachen unterhielten sich ganz locker und entspannt und beachteten die Menschen gar nicht. „Sie hätten ihn getötet, wenn niemand etwas gemacht hätte. Wir sitzen alle im selben Boot, wir sollten uns gegenseitig beschützen, so gut wir können.“, entgegnete Charisa dem Nyoma mit leiser Stimme und in einem Ton, als wäre ihr Handeln selbstverständlich gewesen. Die Spitzhacken der Beiden krachten auf das beige Gestein, in dem kleine, rot schimmernde Kristalle zu sehen waren – kleine Rhodoniten. Aber immer noch kein Siliziumcarbid. „Da hast du verdammt Recht.“, stimmte Barrex seiner neuen Nachbarin zu. Sein Äußeres hatte die typischen Merkmale eines Nyoma: Er sah aus wie ein Mensch, dessen Haut mit harten, dunkel-grünlichen, kleineren Schuppenplatten ersetzt wurde. Nur Haare hatte Barrex nicht – wie es bei keinem Nyoma der Fall war, dafür längliche Erhebungen der Schuppen auf dem Kopf, längliche Kämme, die über den gesamten Schädel bis nach hinten zum Nacken liefen und dabei ein einzigartiges Muster erkennen ließen, wie eine Art individuelle Frisur. Sie liefen alle in einer Spitze auf seiner Stirn zusammen, wo bei Terrianern der Haaransatz wäre und schlängelten sich dann nach hinten, in Richtung seines Rückens. Zwei dieser Schlangenlinien vereinten sich in der oberen Mitte seines Kopfes zu einer einzigen, dickeren Linie. Außerdem hatten die Erhebungen auf seinem Haupt als einzige Strukturen des Nyoma-Körpers einen bläulichen Farbton. Er hatte zudem grobe Gesichtszüge und einen selbstbewussten Blick.
Man sah Barrex also auf den ersten Blick an, dass man sich lieber nicht mit ihm anlegen sollte. Aber er wirkte auch nicht unfreundlich, er machte eher einen professionellen Eindruck. „Wie heißt du?“, fragte er. „Charisa. Und du?“ „Mein Name ist Barrex. Ich komme von... Ich meine, ich habe vor langer Zeit auf Xibal gewohnt. Bis zum Angriff der Glanzhäute.“ Xibal war ein Planet, der vor sehr langer Zeit im Jahre 2015 vom Weltraumteleskop Kepler entdeckt worden war. Damals hatte er nur die furchtbare Bezeichnung Kepler-452b. Weil er 1400 Lichtjahre von der Erde entfernt lag, ist er erst im 25. Jahrhundert besiedelt worden, als die Überlichtgeschwindigkeitsantriebe der Menschheit schnell genug geworden waren, um in weniger als einem Viertel Jahr diesen Planeten von der Erde aus zu erreichen, denn solange konnten die lebenserhaltenden Systeme damals von den Raumschiffen in Betrieb gehalten werden. Im 21. Jahrhundert hielt man Xibal für einen erdähnlichen Planeten, was nicht ganz falsch war; aber er wies auch große Unterschiede auf. Es gab viele Säuremeere neben den Wassermeeren auf dem Planeten und dementsprechend fand man auch oft stinkende, säurehaltige Dämpfe in der Luft. Dadurch hatten sich die Nyoma entwickelt. Ihre harte Schuppenhaut hielt nicht nur einem großen Druck stand, sondern war vor allem sehr resistent gegen ätzende Stoffe und viele andere Chemikalien. Wenn sie atmeten, passierte die Luft einen Filter, der schädliche Stoffe herausfiltern konnte, bevor der lebenswichtige Sauerstoff in die Lungen der Nyoma gelangte und so waren sie auch gegen ätzende oder giftige Dämpfe weitestgehend resistent.
„Hast du die Kämpfe miterlebt?“, fragte Charisa weiter. „Nicht nur das. Ich hatte mitgekämpft. Ich war damals der Kopf einer Spezialeinheit der Polizei. Uns haben sie auch zum Kämpfen angefordert. Jeder kampffähige Mann und jede kampffähige Frau wurde herangezogen. Aber wir hatten keine Chance gegen die Angreifer. Es waren viel zu viele Feinde. Die Silizoiden waren der Menschheit damals 25 zu 1 überlegen.“, erklärte der Nyoma betroffen, aber hart. Er rammte seine Spitzhacke mit besonders viel Kraft und Wut in die Steinwand und ein größerer Brocken wurde herausgeschlagen. Viele Gefangene hatten ihr Schicksal als Arbeitssklaven bereits akzeptiert; Barrex offenbar nicht, wie sein Tonfall offenbarte. Charisa´s Blick wurde etwas trauriger. „Und... Deine Einheit? Was ist mit deinen Kollegen passiert?“ Barrex blieb kurz still, bevor er antwortete. „Ich weiß nicht bei Allen, was sie mit ihnen gemacht haben. Viele wurden getötet, aber Einige wurden auch gefangen genommen. Ich weiß nur, dass eine meiner Kameradinnen auch hierher gebracht wurde. Ihr Name ist Jenny. Sie müsste irgendwo weiter links neben uns sein.“ Charisa neigte den Kopf neugierig für eine Sekunde nach links zu den anderen Arbeitern, doch in der Dunkelheit der Höhle konnte sie außer den Silhouetten der anderen Menschen kaum etwas erkennen. Die Terriani drehte sich also schnell wieder zurück, während Schlag auf Schlag gegen die felsige Wand folgte. „Was ist mit dir? Wo kommst du her?“, fragte nun Barrex interessiert. „Ich komme von Cibola. Ich kann mich nur noch dunkel an meine Heimat erinnern. Es ist Alles so lange her... Ich war elf, als unsere Siedlung angegriffen wurde. Es war eine kleine Siedlung in einer Steppe, die auf einem Berg errichtet war. Wir hatten nicht viel, aber es ging uns gut. Ich hatte damals viele Freunde... Bis wir angegriffen wurden.“
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