Er musste sich jetzt um zwei Sachen kümmern. Erstens musste er üben am Hang anzufahren, damit er den Wagen unter Kontrolle hatte. Er musste es ohne diese verdammte Handbremse ausprobieren. Was hatte seine Frau noch mal gesagt. Irgendwas mit der Handbremse. Egal, er würde sie einfach nicht benutzen. Wenn er genug übte, konnte er sie im entscheidenden Moment überrollen und den Wagen dann nach vorne preschen lassen. Dann würde er sie sogar zweimal überfahren, was ihr den Rest geben würde. Das mit der Panik klang doch plausibel. Man würde Nachbarn befragen und Bekannte, erfahren, dass er am Hang nicht anfahren konnte. Das war gut. Zweitens musste er sie dazu bringen, mit ihm zu fahren und dann auch noch dort auszusteigen. Jetzt war er wieder wütend. Sein Gebrüll heute morgen war dafür nicht gut gewesen. Er musste sie gut stimmen, sie verwöhnen. Sie musste sich in Sicherheit wiegen. Er musste sich mit ihr versöhnen.
Den ganzen Tag fuhr er ziellos umher. Stendorf, Osterholz-Scharmbeck, Worpswede, Ritterhude, Platjenwerbe, Schwanewede. Einem Bauern kaufte er einige Blumen ab. Auf einem stillen Parkplatz in Leuchtenburg übte er am Hang anfahren ohne Handbremse. Dabei kam ihm die Idee mit den Schaufensterpuppen. Im Kaufhauslager gab es genug, die ausrangiert waren. Morgen war Montag. Er würde eine Schaufensterpuppe, nein, am besten zwei oder drei mitnehmen. Er musste einen Zeitplan aufstellen. Am Donnerstag wollte er zur Lottogesellschaft und seinen Gewinn abholen. Am besten einen Scheck. Übers Wochenende würde er in die Schweiz fliegen und dort ein Nummernkonto eröffnen oder gleich in die Karibik. Er musste sich noch informieren, wo er das Geld am besten deponieren konnte. Bis Donnerstag musste sie darum weg sein.
Heute Abend musste er sie zum Essen einladen. Das kam bei ihr immer gut an. Morgen Abend würde er am Hang hier am Pohlteich üben und gleichzeitig herausfinden, wann niemand mehr unterwegs war. Da würde er mit der ersten Puppe testen, ob das Zurückrollen des Wagens wirklich jemanden töten konnte. Zurück am Verteilerkreis bog er Richtung Burgdamm in die Bremerhavener Heerstraße ein und die nächste rechts wieder in den Tannenhügel. Das neue Holzkreuz mit der frisch aufgeworfenen Erde beachtete er nicht.
8
„Was machen Sie da?“, fragte der Polizist. Ein dicker feister Mann, kleine Statur, saß in einem alten Opel, der gerade eine Schaufensterpuppe überfahren hatte. Das Auto stand am Hang hinauf zur Bremerhavener Heerstraße. Von dort war das Auto nicht zu sehen gewesen. Auch von den Häusern am Tannenhügel konnte niemand auf diesen Hang schauen.
Der kleine Mann stotterte. Schweiß trat aus den Poren.
„Ich...ich .. übe. Am Hang anfahren.“
„Um diese Zeit? Jetzt ist ein Uhr nachts! Wir haben den Anruf einer Passantin entgegengenommen. Dass Sie hier am Hang Puppen überrollen. Also, was üben Sie da?“
„Ich übe. Das ist nicht verboten.“ Die Stimme war nun fest und aufmüpfig.
„Soso“, meinte der Polizist, blickte seinen Kollegen an, der auf der anderen Seite des Opels stand. Dann wandte er sich wieder dem Mann im Auto zu. „Ihre Fahrzeugpapiere bitte. Verkehrskontrolle!“
„Das ist ja Schikane. Ich habe nichts Verbotenes gemacht.“ Der kleine Mann wurde nun wütend.
„Wollen Sie Widerstand leisten?“, fragte der Polizist gedehnt. „Wir können Sie auch gern mit zur Wache nehmen. Dann haben Sie danach einen kleinen Nachtspaziergang.“
„Nein, nein!“ Der Mann reichte die Papiere dem Beamten.
„Warten sie bitte im Auto!“, befahl der Uniformierte. Die Überprüfung ergab nichts. Ernst Michel wohnte nur die Straße hinauf. Wenn Herr Michel nachts eine Puppe immer wieder überrollte, war das seine Sache, nicht aber die der Polizei. Die Polizisten fuhren davon.
9
Er zitterte noch Minuten danach. Jetzt war er aufgeflogen. Alles, aber auch alles, richtete sich gegen ihn. Das Abendessen gestern war nicht so verlaufen, wie er sich gedacht hatte. Seine Frau hielt ihm vor, fremd zu gehen. Sie wolle die Scheidung. Da hatte er sich vergessen. Brüllte, tobte. Was interessierten ihn da noch die anderen. Dieses Restaurant würde er einfach kaufen und die Leute entlassen, wenn die ihn weiterhin so feindselig anstarrten. Seine Frau schrie zurück, dass er sie wohl eher umbringen wolle, als die Scheidung zu akzeptieren. Andere Männer waren ihr zu Hilfe geeilt. Er hatte schnell das Restaurant verlassen müssen. Als er nach Hause gekommen war, hatte sie auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass sie zu einer Freundin gehen wolle, um dort zu übernachten. Sie fühle sich zu Hause mit ihm nicht mehr sicher. Am Montag kam dann die nächste Schreckensnachricht.
Er gewann nicht allein den Jackpot. Noch jemand tippte seine Zahlen. Keine zwanzig Millionen, nur noch zehn Millionen. Was sollte er mit nur zehn Millionen machen? Die sechzig Millionen waren gerade ausreichend gewesen, und jetzt nur zehn Millionen. Davon konnte er sich nicht lange etwas leisten. An seine Frau kam er jetzt nicht ran. Das hieß nur noch fünf Millionen für ihn, wenn die Scheidung durch war. Wie sollte er sein zukünftiges Leben mit nur fünf Millionen bestreiten? Er hatte doch schon dreißig Millionen eingeplant, um sich überall einzukaufen und Macht zu haben. Mit fünf Millionen würden die Kreise, die er anstrebte, ihn doch nur auslachen. Wieso musste jemand seine Zahlen tippen? Das war ungerecht. Alles war ungerecht. Hatte er nicht immer gearbeitet, war er nicht immer pünktlich gewesen. Nie hatte er krank gemacht. Dass seine Frau jetzt mit Scheidung kam, war nicht fair. Zumindest hatte sie heute Abend noch mal angerufen. Sie war versöhnlicher gewesen. Sie brauche das Auto am Dienstag. Sie hatte nicht gesagt, was sie heute am Montag getan hatte. Aber er sah es als gutes Zeichen für seine Pläne. Sie würde bestimmt erkennen, dass es besser war zu ihm zurückzukehren. Er grinste. Zurückzukommen, um zu sterben.
Er fuhr zum Hang und übte mit den Puppen. Er verbesserte sein am Berg anfahren und hatte den Dreh raus. Er wusste nun die beste Stelle für schnelles Zurückrollen. Die weichen Plastikpuppen waren regelrecht zermatscht worden. Ein Schädel würde zerquetscht werden. Aber daran dachte er weniger. Wenn das Auto über seine Frau rollen würde, gab es keine Hilfe mehr für sie und sein Weg war frei, auch wenn es nur zehn Millionen waren. Aber besser als gar nichts. Nun waren die beiden Polizisten aufgetaucht. Mist und doppelter Mist. Jetzt konnte er das mit dem Überfahren vergessen. Die Polizisten würde man befragen und feststellen, dass er den Tod seiner Frau geplant und geübt hatte. In dieser Nacht fand er wieder kaum Schlaf. Zuerst die Nachricht vom halbierten Gewinn, dann die Aufregung gestern im Restaurant und jetzt das mit der Polizei.
Am nächsten Tag fühlte er sich schlapp und müde. Er rief im Betrieb an und meldete sich krank. Er bekam noch mit, als seine Frau kam und das Auto holte. Bis Mittag hielt er durch. Dann schlief er ein.
10
Das Telefon schrillte und riss ihn aus dem Schlaf. Alles war dunkel. Wach war er noch nicht, aber er fühlte sich etwas besser. Seine Frau war es, schien völlig aufgeregt. Sie habe jemanden überfahren und wüsste nicht, was zu tun sei. Sie hätte Alkohol getrunken. Er müsse ihr helfen. Sie sei am Hang zur Heerstraße. Er zog sich rasch eine Hose an, während sein Gehirn nach Ideen jagte. Das war die Gelegenheit, frohlockte er. Sie stand dort, wo er geübt hatte. Jetzt würde alles gut für ihn werden. Neben dem anderen Toten würde er sie überfahren. Den Wagen würde er beseitigen, in der Weser oder in der Lesum versenken. Dann würde es wie Fahrerflucht aussehen. Ohne Wagen gäbe es keinen Hinweis auf ihn. Er lief aus dem Haus und den Tannenhügel hinunter. Er sah den Opel ohne Licht am Hang stehen. Seine Frau bückte sich und hielt mit ihren Händen zwei Beine und versuchte zu zerren. Der Rest des Körpers lag im Gebüsch. Sie hörte ihn und drehte sich zu ihm um. Sie lächelte ihn an. Er grinste zurück.
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