"Ausgezeichnet", pflichtete de Cavalleux bei und wandte sich wieder an Barchaise. "Da die beiden in Nouméa abgeblitzt sind, wenden sie sich dem nächstliegenden Hafen zu, sie pilgern nach Quen. - Einverstanden?"
Barchaise nickte eifrig. "Das war meine Überlegung."
"Wenn sie nun aber mit Ihren Dragonern rechnen und den Strandweg nehmen?"
Abermals ein wenig zu schnell verkündete Barchaise: "Dann sollte man den Zug teilen. Ein Trupp die Waldchaussee, der andere am Strand entlang."
Ein unterdrücktes, mitleidiges Lachen der Herren war nicht zu überhören.
"Kennen Sie den Strand, Oberleutnant?" fragte de Castris väterlich. "Da ist ein Pferd ein Hindernis, keine Hilfe."
„Ich korrigiere mich", sagte Barchaise leise und beschämt. "Außer Berittenen muss man wohl auch Fußsoldaten in Bewegung setzen.
"Weiß der Teufel, ja!" Der General sagte es wie ein Lehrer, der froh ist, endlich eine einigermaßen befriedigende Antwort aus einem Schüler herausgebracht zu haben. "Um unsern braven Barchaise nicht länger ins Schwitzen zu bringen, eine Frage an alle: Wie stehen wir da, wenn die beiden sich anstatt nach Südosten nach Nordwesten gewandt haben, um in Koumac ein Schiff zu bekommen?"
Colonel Dutombray schüttelte energisch den Kopf. "Unwahrscheinlich, höchst unwahrscheinlich." Er nahm Barchaise den Zeigestock aus der Hand und fuhr mit dessen Spitze die Strecke auf dem Relief ab. "Das sind beinahe dreihundert Kilometer. Von Nouméa nach Quen sind es dagegen nur gut fünfzig." Seine Stimme bekam einen höhnischen Klang. "Bei aller Wertschätzung für die strategischen Qualitäten des Meuterers Kervizic, er wird die Strecke zu seiner vermeintlichen Befreiung nicht um das Sechsfache verlängern, nur um einem eventuellen Schachzug von unserer Seite aus zu begegnen."
"Trotzdem!" entfuhr es dem Oberleutnant Barchaise, "unser Gespräch über Dummheit und Tollkühnheit bedenkend, sollte man Einheiten der Garnison von Paita auf Nouméa in Marsch setzen. Hat Kervizic den Weg nach Koumac gewählt, dann läuft er denen direkt in die Arme."
"Bravo, Oberleutnant!" rief de Cavalleux. '"Das habe ich als erstes veranlasst. Die Kuriere nach Paita dürften die dreißig Kilometer bereits bewältigt haben, und eben zu dieser Stunde beginnt der Großteil der Garnison von Paita, Chaussee, Wald und Strand nach Nouméa hin durchzukämmen."
In den Mienen der Offiziere stand Anerkennung für die rasche Maßnahme des Chefs.
Der General hatte den Zeigestock wieder an sich genommen. "Ich sprach von durchkämmen, meine Herren! Die Galgenvögel zu fangen hat etwas von der Suche nach der Stecknadel im Heu. Der Urwald ist der Heuhaufen. Beste Gewähr für sicheres Gelingen bieten möglichst viele Augen."
"Heißt also", Colonel Dutombray setzte den Gedankengang des Generals fort, "mit Ausnahme der unerlässlichen Wachmannschaften den letzten Mann der Garnison Nouméa für die Sache einzusetzen. Das wären, meiner oberflächlichen Schätzung nach, mit den Suchtrupps von Paita an die tausend Leute."
"Genau das!" De Cavalleux ging zu einem kleinen Tisch in der Ecke, brachte Karten und Zettel, die er an die Offiziere verteilte. „Hier sind die Aufgaben jeder Einheit präzise festgelegt. Stimmen Sie sich ab, meine Herren, ständige Tuchfühlung untereinander ist unerlässlich, Auf breiter Front, am Strand und bis einen Kilometer links der Chaussee, wird sich das Fußvolk auf Quen zu bewegen, wie die Treiberkette einer Hasenjagd. Dieser Kette kann niemand entkommen, wenn Sie sich exakt an die Koordinaten halten. Die berittenen Einheiten werden eingesetzt für die Überwachung der Chaussee, für Kurierdienste, ferner als Vorausabteilung nach Quen, um den Weg der beiden auch von vorn abzuriegeln."
Oberleutnant Barchaise, ermutigt durch die lobenden, Worte des Generals, fragte wie ein braver Schüler: "Und in Nouméa selbst? Wenn die beiden nun frech genug sind, noch in der Hauptstadt ...?"
Der General unterbrach Barchaises Frage lächelnd: "Auch daran wurde gedacht. Polizeichef Quissard bereitet bereits eine Großrazzia vor. Schon jetzt würde keine Maus mehr hinauskommen aus Nouméa." De Cavalleux ließ den Deckel seiner goldenen Repetieruhr aufspringen. "In einer Stunde, meine Herren, Appell! Zehn Minuten später befindet sich die Garnison auf dem Ausmarsch! - Ich danke Ihnen. - Guten Morgen!"
Nunmehr allein in dem hellen Raum, überlegte der General. Waren die Strolche klug genug, die nachts für sie noch ungefährliche Chaussee zu benutzen, dann haben sie jetzt einen Vorsprung von etwa zehn bis fünfzehn Kilometern. Doch das Tageslicht treibt sie in den Wald oder an den Strand. Sie brauchen Nahrung, sie müssen ihren Durst stillen. Alles das hält auf. Womöglich sammeln sie Kräfte für die Nacht und schlafen am Tage. Allerspätestens zehn Kilometer vor Quen muss die Treiberkette sie eingeholt haben.
Zufrieden mit der Stabsbesprechung und erst recht mit seiner exakten Planung, bereitete sich der General auf den Appell vor, knöpfte den obersten Uniformknopf zu, legte die Schärpe um und gürtete sich mit dem Degen.
Rätsel um Manon (Erste Fortsetzung aus dem Tagebuch des Paschal Grousset)
Aus der eigenen Haut zu schlüpfen, sich unnachsichtig selbst zu betrachten sollte zumindest versuchen, wer ein Tagebuch führt. Die Nase ist zu lang, der Mund zu breit, und mein großer Adamsapfel erinnert an den des Arlecchino. Mittelgroß, dunkelhäutig, schwarzes Haar, brünetter Teint, ein Durchschnittsfranzose und kein schöner Mann. Kaum volljährig, war ich mir des Vorteils dieser Hässlichkeit bereits bewusst, da die Frauen schöne Männer zwar anhimmeln, aber sie sind von ihrer Treulosigkeit überzeugt. Ob schön oder hässlich, wichtiger ist die Macht des Wortes, besonders Frauen gegenüber. Das ist meine Erfahrung, und als geborenem Pariser machte mir das Talent des überzeugenden Redens manches zu leicht. Es war wohl auch der Grund, das Medizinstudium an der Sorbonne vorzeitig abzubrechen und mich dem Journalismus in die Arme zu werfen.
Schon früh sammelte ich Erfahrungen mit reifen Frauen und frühreifen Mädchen. Ich genoss die Liebeleien und glaubte nicht an die berühmte große Liebe. "Romeo und Julia" empfand ich als bezaubernde Dichtung, die Unbedingtheit dieser Liebe dagegen als wirklichkeitsfremde Überhöhung. Von der unsterblichen Liebe hatte ich immer nur gelesen, bei Homer und Petrarca, Dante Alighieri, dem schreibmächtigen Monsieur de Balzac und bei dem armen, begnadeten Henry, der einmalig und poetisch über Herzensmelodramen zu spotten verstand. Manche behaupten, jene Seite der Dichtkunst Heines sei zynisch, ich bestreite es, weil ich mich dann ebenfalls einen Zyniker nennen müsste. Als Medizinstudent hatte ich Zyniker sterben sehen, sie waren nicht gut gestorben. Mit diesen Zeilen wird mir klar, dass ich mich instinktiv gegen jeden Zynismus wehre. Wahrscheinlich haben das die Frauen gespürt. Ich bewunderte an ihnen all das, was ihre Weiblichkeit ausmacht, und bemühte mich, mit meinen Liebsten nicht abschätziger umzugehen als mit mir selbst, nicht einmal mit ihren Tränen, wenn es ans Adieu sagen ging. Ich versuchte es mit dem Appell an die Gerechtigkeit. Aus freien Stücken befreundeten wir uns. Wo steht geschrieben, so etwas müsse bis in alle Ewigkeit gehen? In den Augen meiner Bekannten galt ich als abgefeimter Junggeselle, und anstatt beschämt zu sein, schmeichelte es meinem Selbstbewusstsein. So war das mit mir, bis ich Manon traf.
Es ging ihm bis ins Mark, liest man oft über die Liebe auf den ersten Blick. Unsere Geschichte begann prosaischer, denn Manon stand zu weit entfernt, um meinen Blick überhaupt wahrnehmen zu können. In den Tagen am Ende des April einundsiebzig, im Frauenklub auf dem Boulevard Rochechuart, begegnete ich ihr zum ersten Mal, als dort eben über die Gleichstellung der sogenannten illegitimen mit den legitimen Frauen der Nationalgardisten debattiert wurde. Manon sprach mit Verve für die "Illegitimen", besonders für die mit Kindern, die nicht einen Sou nach dem Tod des gefallenen Vaters erhielten, und sie nannte es ein Unrecht an Fleisch und Blut derjenigen, die ihr Leben für die Kommune hingaben. Es war, als seien die Frauen jahrhundertelangem Dornröschenschlaf entrissen worden. Ich sollte etwas zu dem Thema für Vermorels "Ami du Peuple" schreiben. Die feurige Louise Michel hatte ich mehr als einmal sprechen hören, ebenso die kluge Natalie Lemel und eine Reihe anderer gescheiter Weibsbilder. Keine hatte mich so beeindruckt wie Manon. Nicht nur wegen ihrer entzückenden Figur und des ebenmäßigen Gesichts. Sie sprach mit der Technik der Schauspieler, die eine Stimme so wohlklingend und weittragend macht. Manon bot das Bild bezaubernder Weiblichkeit, die mit beiden Beinen auf der Erde steht. Das schreibt sich jetzt so hin, damals spürte ich nur mit geheimem Prickeln, wie mich ihre körperliche Anmut anzog, dagegen einiges in ihrer Rede abstieß. Ich hatte so gut es ging mitstenographiert. Manche ihrer Sätze waren druckreif. Als sie zum Schluss kam, hatte ich Mühe, mich durch die lauschende Menge in ihre Nähe zu schlängeln. Mit Grazie raffte sie ihren Rock, als sie die Stufen des Podiums herabstieg, um sich dem Ausgang zuzuwenden. Erst auf der Straße holte ich sie ein. "Sie waren wunderbar, Mademoiselle Dupriaux."
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