Hatte da nicht gerade etwas geblitzt?
Ungläubig ging er den halben Schritt zurück, um den möglichen Winkel von gerade wieder herzustellen. Aber nichts passierte, kein Funken, kein Blitzen. Offensichtlich doch nur eine Lichtspiegelung. Und das bei absolut sonnenfreiem Wetter. Dennoch hatte etwas seine Neugier geweckt.
Eigentlich schaute er nicht wirklich nach etwas Bestimmtem, zugegebenermaßen nach gar nichts. Er wollte nur mal an die frische Luft, sich die Füße vertreten, auf andere Gedanken kommen. Und da er schon seit je her Flohmärkte mochte, hatten ihn seine Schritte ganz gedankenverloren hierher geführt. Die ganze Nacht hatte er schlaflos in seinem Hotelbett verbracht, damit beschäftigt die Ereignisse des vergangenen Tages gedanklich zu sortieren und weitere Schritte zu überlegen.
Seit zwei Tagen war Brian bereits in Paris auf der Suche nach seinem Vater. Gequält von einem unguten Magengefühl und einem schlechten Gewissen war er hierher gereist, in der Hoffnung, den erst kürzlich so überraschend wieder hergestellten Kontakt wieder zu finden. Und dann hatte er ihn sofort wieder verlorenen. War etwas passiert, oder war es nur die Rache eines verbitterten Mannes? Über zehn Jahre lang hatten Vater und Sohn nicht miteinander gesprochen, keiner hatte Verständnis für die Reaktion des anderen gezeigt. Und keiner konnte über seinen Schatten springen, den ersten Schritt der Versöhnung zu machen.
Und dann kam plötzlich dieser Anruf. Sein Vater hatte ihn völlig unerwartet und ohne Vorgeplänkel um Verzeihung gebeten und ihn schnellstmöglich wiedersehen wollen. Man solle sich doch zusammensetzen und über alles reden. Er sei für ein paar Tage in Paris und da wäre es doch schön, wenn man die Chance nützte. Sie hatten sich im Restaurant Robespierre am Montmartre verabredet. Für Brian keine weite Anreise aus seiner zweiten Heimat Deutschland. Und Zeit hatte er auch, viel zu viel sogar. Er hatte keine Sekunde gezögert zuzusagen, aber mehr aus Verwunderung über die plötzliche Sinneswandlung, als aus Überzeugung. Wollte sein alter Herr sich tatsächlich mit ihm versöhnen nach all den Jahren? Sie hatten sich früher immer großartig verstanden und der Bruch zwischen ihnen war genau betrachtet lächerlich und nichts, worüber man nicht hätte sprechen können. Aber nachdem einmal der Zeitpunkt für eine Aussprache vorbei war, verbarrikadierten sich beide hinter dem eigenen Stolz.
Aber nun hatte Brian sich auf den Weg gemacht, war mit dem Zug von Berlin nach Paris gefahren und pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt zu dem Restaurant gekommen. Sein Vater war allerdings nicht erschienen. Brian hatte über zwei Stunden gewartet und sich geärgert, nicht vorher wenigstens die Handynummern ausgetauscht zu haben. Aber je länger er dort gesessen hatte, desto zorniger war er geworden, denn er hatte mehr und mehr das Gefühl bekommen, dass ihn sein Vater aus reiner Bosheit herkommen ließ, um ihn dann zu versetzen. Irgendwann hatte er die Nase voll und war zurück zum Hotel gegangen, wobei er sich noch eine Flasche Whisky mit aufs Zimmer genommen hatte. Und mit jedem Glas war er ruhiger geworden und hatte überlegt, ob nicht doch ein anderer Grund seinen Vater am Kommen gehindert haben konnte. Und je mehr er gegrübelt hatte, desto auswegloser war ihm die Situation erschienen, da er nicht wusste, wo sein Vater zu finden war, und umgekehrt der alte Herr ihn nicht erreichen konnte. Er hatte seinen Anrufbeantworter zuhause angerufen, in der Hoffnung, dass ihn dort vielleicht eine Antwort erwartete, aber bis auf einen Anrufer, der nur ein Gurgeln auf dem Band hinterlassen hatte, war keine Nachricht dagewesen.
Obwohl durch genügend Alkohol in die Welt der Träume geschickt, hatte Brian in dieser Nacht wie gewohnt unruhig geschlafen. Am nächsten Morgen hatte er sich dann nach einem ausgiebigen Frühstück überlegt, welche realistischen Möglichkeiten es vor Ort gab seinen Vater zu finden, oder ob es nicht besser sei, gleich wieder die Heimreise anzutreten. Er war dann zu dem Schluss gekommen, zu dem Restaurant zurückzukehren, um zu fragen, ob sein Vater vielleicht am Vorabend doch noch aufgetaucht war. Dies war jedoch nicht der Fall gewesen, woraufhin Brian sich entschlossen hatte, zur Polizei zu gehen.
Brian griff nach der seltsamen Uhr, die ihm unter all den Antiquitäten ins Auge gefallen war. Sie sah ungewöhnlich aus, eigentlich gar nicht wie eine Uhr. Trotz des altmodischen Gehäuses, das auf ein älteres Exemplar hindeutete, war die Größe und Machart eher modern. Und dann dieser deplaziert wirkende Spiegel in der Mitte. Er sah aus wie ein alter Bildschirm in Miniaturgröße und schien gar nichts mit der Uhr zu tun zu haben. Dennoch machte ihn diese Apparatur neugierig. Und sei es aus rein beruflichem Interesse. Schließlich war er gelernter Uhrmacher, auch wenn seine berufliche Praxis ein Jahrzehnt zurücklag und er sich seitdem nur noch als reiner Sammler und Nutzer von Zeitmessern aller Art damit beschäftigte. Aber gerade diese Sammelleidenschaft ließ ihn jetzt diese Uhr näher betrachten. Es gibt verschiedene Gründe warum Menschen Dinge sammeln, aus Passion, aus Langeweile, aus Zufall. Manche wollen die teuersten Exemplare besitzen, manche die schönsten und manche eben die seltensten. Und solch ein Sammler war Brian. Es mussten nicht unbedingt wertvolle oder besonders attraktive Uhren sein. Sie mussten einfach nur anders als das Gewöhnliche sein. Er verliebte sich immer dann in ein Stück, wenn er etwas vergleichbares vorher noch nicht gesehen hatte. Und so ging es ihm in diesem Moment.
Er untersuchte das Stück nach Herkunft, Hersteller, Funktionsfähigkeit und Beschädigungen. Aber dieses Exemplar erschien ihm sehr ungewöhnlich. Weder eine Manufaktur noch sonst ein Hinweis war zu erkennen, lediglich die Initialen JPC, die anstelle der Ziffer Zwölf eingesetzt waren. Dann war da noch eine Gravur in kyrillischen Buchstaben auf dem Rand zu entdecken, die so gar nicht zu der restlichen Uhr passte. Zudem fehlte eine zweite Krone, mit der offensichtlich das Datum eingestellt werden konnte. Dies stand auf dem 24. Mai 1935. Ansonsten war die Uhr bis auf ein wenig Staub in tadellosem Zustand. Durch leichtes Schütteln setzte er die Automatik in Gang und die Zeiger setzten sich augenblicklich in Bewegung. Aufziehen ließ sich die Uhr auch problemlos. Es sah fast so aus, als handelte es sich hier um ein Einzelstück, was noch nie genutzt worden war. Genau das, wonach er immer wieder suchte. Das fehlende Ersatzteil zu finden war zwar wahrscheinlich komplett aussichtslos, aber es zu ersetzen und damit die Uhr wieder zu reparieren schien sehr realistisch. Abgesehen davon würde er sie nicht tragen wollen. Aber eine funktionsfähige Uhr hatte natürlich einen vielfachen Wert. Das musste er der Verkäuferin ja nicht unbedingt erklären.
Erst jetzt nahm er die junge Frau wahr. Sie wirkte etwas deplaziert hinter der Ansammlung alter Gerätschaften in ihrem konservativen und dennoch modernen Outfit. Trotz dezenter Kleidung und Make-up konnte sie ihre Attraktivität nicht verstecken. Gleichmäßige Gesichtszüge mit vollen Lippen, leichte Bräune und leuchtend grüne Augen standen in perfektem Einklang mit sehr langem, zu einem Pferdeschwanz gebundenem, braunem Haar. Aber sie sah nicht aus wie jemand, der diese Sachen mit großem Sachverstand anbot. Dafür waren sie zu lieblos auf dem Tisch angeordnet. Sie schien die typische Verkäuferin alten Hausrats zu sein, der irgendwo auf dem Speicher entdeckt worden war. Sie würde froh sein für jedes Teil, was sie los bekam, ungeachtet dessen wahren Werts. Aber handeln würde er sowieso nicht unbedingt, viel zu groß war seine Neugier, ob er diese Uhr restaurieren konnte und was er über deren Herkunft erfahren würde.
„Combien?“, versuchte Brian sich nach dem Preis zu erkundigen. Sein Französisch war nicht gerade gut, aber ein paar Brocken konnte er noch.
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