Ein kurzes Zögern des Mannes im Pullover bestätigte ihre Vermutung, dass er ihr noch eine Chance geben wollte, ihn doch noch aufzuhalten, um ihm das Objekt seines Begehrs zu seinem völlig unrealistischen Angebot zu überlassen. Aber sie hatte eben auch ihren Stolz. Schließlich waren es doch alles mehr oder weniger Familienerbstücke. Zugegebenermaßen kein einziges, was ihrem Geschmack auch nur im Entferntesten entsprach. Nicht ein Exemplar ihrer angepriesenen Ware würde sie jemals bei sich zuhause hinstellen, auch wenn es von ihrer geliebten Großmutter stammte. Aber es war dennoch kein wertloser Tand.
Nachdem vor einigen Wochen die Großmutter ins Pflegeheim gezogen war, hatte Laeticia sich bereiterklärt, sich um den Hausrat zu kümmern. Ihre Tante hatte schon genug mit dem Haus selbst zu tun. Die Reparaturen, der Garten, alles musste auf Vordermann gebracht werden, wenn man einen einigermaßen guten Preis erzielen wollte. Die Lage war zwar ideal, fast mitten in Paris und dennoch relativ ruhig gelegen, aber das Haus war über 100 Jahre alt, zu klein für heutige Ansprüche mit niedrigen Decken, und die Gegend inzwischen leider ziemlich heruntergekommen. Damals hatte das Viertel sicher zu einem der besseren hier gehört, aber heute bestand ein Großteil des Umfeldes aus Hochhäusern in desolatem Zustand. Auch die direkten Nachbarhäuser von Laeticias Großmutter waren größtenteils unbewohnt und schienen ausgeplündert. Graffitis prägten das Stadtbild in diesem Viertel und nicht selten brannte nachts mal wieder irgendein Fahrzeug auf den Straßen ringsherum. Zum Zeitvertreib der Jugendlichen, die hier ohne Zukunftsvisionen und Aussichten auf ehrliche Arbeit aufwuchsen. Dennoch stand die alte Dame seltsamerweise genau bei diesen Straßengangs irgendwie unter besonderem Schutz. Ihr Haus war weder je beschmiert worden, noch war es in irgendeiner Weise beschädigt.
Keiner der wenigen verbliebenen Familienmitglieder Laeticias wollte jedoch dort einziehen, also einigte man sich, das Haus herzurichten und das Beste aus einem Verkauf herauszuholen, falls es überhaupt verkäuflich war. Vielleicht würde es ein Käufer auch abreißen und ein Garagenhaus an dessen Stelle bauen. Eine Investition, die hier vielleicht sogar Gewinn versprechend sein könnte, wo doch kein Anwohner sein Fahrzeug länger als notwendig auf der Straße parkte. Schon als die Großmutter hier noch lebte, wollte keiner ihrer Besucher lange bleiben, wenn er sein Auto nicht auf ihrem Grundstück abstellen konnte.
Laeticia war die einzige, die sich wirklich um die alte Frau kümmerte. Früher hatte das ihre Mutter getan, aber sie war vor einigen Jahren Laeticias Vater ins Grab gefolgt. Jetzt war nur noch die andere Tochter da, zu der die Alte nie ein besonderes Verhältnis gehabt hatte, und eben ihre geliebte Enkelin. Diese besorgte ihre Einkäufe, besuchte sie regelmäßig und las ihr aus den alten Büchern vor, die heute ebenfalls auf dem Flohmarkt zum Verkauf standen. Gerne hätte Laeticia das ein oder andere als Andenken behalten, aber sie hatte in ihrer kleinen Stadtwohnung keinerlei Platz für all diese Dinge. Mit dem Einverständnis ihrer Großmutter behielt sie den Schmuck für sich, auch wenn sie ihn nie tragen würde. Aber er nahm keinen Platz weg und wäre auch zu wertvoll, ihn einfach zu verkaufen.
Aber diese ganzen Dinge, die jetzt hier auf dem Tisch lagen, Küchenutensilien, Dekoration, Geschirr und allerlei Krimskrams sollte sie verkaufen und sich von dem Erlös einen Wunsch erfüllen. Darauf hatte die Alte bestanden. In einem ihrer wenigen lichten Momente hatte sie all das gemeinsam mit ihnen besprochen, ihrer Tochter und Laeticia, mehr Familienmitglieder direkter Linie gab es nicht.
Und nun war Großmutter Fernande ins Altenheim gegangen. Alleine schaffte sie es nicht mehr. Körperlich schon seit längerem nicht, aber da konnte ihre Enkelin noch helfen, außerdem kam morgens und abends jeweils eine Pflegerin vorbei. Nun war aber auch der Geist vom Alter angegriffen und der Verfall machte seit einigen Monaten rapide Fortschritte. Vorbei waren die Abende, an denen die alte Fernande ihrer wissbegierigen Enkelin von den alten Zeiten erzählte, von ihrer eigenen Jugend, dem Krieg, der Zeit des Wiederaufbaus danach und der Kindheit von Laeticias Mutter. All diese Erinnerungen lösten sich allmählich in Luft auf. Nur selten gab es Momente, an denen die Alte alle Sinne beisammen hatte und man mit ihr über ernsthafte Angelegenheiten sprechen konnte.
„Achtzig Euro!“, beantwortete Laeticia die Frage eines jungen Pärchens nach dem Preis für ein Ölgemälde. Eines dieser langweiligen Landschaftsbilder mit einem röhrenden Hirsch.
„So viel wollten wir nicht ausgeben, aber es ist wirklich wunderschön! Könnten wir es nicht für vierzig haben?“
„Sagen wir sechzig, dann treffen wir uns in der Mitte!“
Die beiden jungen Leute schauten sich verzweifelt an. Man sah ihnen an, dass sie sich mit einer Entscheidung schwer taten.
„Fünfzig?“
„Na gut!“ Laeticia ließ sich erweichen, die beiden waren ihr sympathisch. Außerdem war es wieder ein sperriges Teil weniger für den Rückweg und fünfzig Euro auf der Habenseite waren ja auch in Ordnung. Wer auf dem Flohmarkt verkauft, sollte ohnehin den Verkaufspreis nicht in Relation zum Wert setzen, redete sie sich ein. Das machte vielleicht der professionelle Händler, aber nicht so ein Gelegenheitsverkäufer wie sie.
Dies war jetzt schon der zweite Flohmarkttermin, den sie wahrnahm. Maximal viermal wollte sie es versuchen. Der berühmte Marché aux Puces in Paris war ihr für solche antiken Dinge empfohlen worden. Und in der Tat hatte sie schon einiges losbekommen. Das Problem war, dass nicht viel in ihren kleinen Renault passte. Sie hatte sich für das zweite Mal schon einen großen Kombi von ihrem Nachbarn ausgeliehen, aber einiges war so sperrig, dass sie nicht umhin kam, mehrere Male hierher zu kommen. Aber Alles in Allem lohnte es sich schon. Abzüglich der nicht gerade geringen Standgebühr hatte sie schon mehrere hundert Euro eingenommen. Was sie sich mit dem Erlös leisten wollte, wusste sie noch nicht. Vielleicht ein schönes Wochenende im Süden? In sauberer Luft. Sie liebte das Meer. Aber auch die Berge hatten ihren Reiz. Sie war immer noch Schweizerin, obwohl sie hier in Frankreich geboren und aufgewachsen war. Eigentlich verband sie nichts mit der ursprünglichen Heimat ihrer Familie, deren letzte Generationen immer wieder zwischen Frankreich und der Schweiz hin und her getingelt waren. Das meiste kannte sie nur aus den Erzählungen der Großmutter, die selbst schon in Frankreich aufgewachsen war, und von den wenigen Besuchen bei entfernten Verwandten in den schweizerischen Bergen. Aber ihre Nationalität erleichterte ihr die Ausübung und das eventuelle Weiterkommen in ihrem Job. Sie hatte Sprachen an der Sorbonne in Paris studiert und arbeitete als Botschaftssekretärin in der schweizerischen Botschaft in der Rue de Grenelle. Sie sprach herkunftsbedingt französisch, deutsch und italienisch und hatte zusätzlich englisch und russisch gelernt. Einerseits war ihre Arbeit in der Botschaft abwechslungsreich und spannend, andererseits war sie auch froh, wenn sie nach Feierabend oder an freien Tagen ihre Ruhe hatte. Dann zog sie sich in ihr kleines Reich zurück, schmuste mit ihrem Kater, las ein spannendes Buch und probierte die neuesten Kochrezepte aus. Gelegentlich traf sie sich mit ihrer Freundin Sandrine zum Bummeln, wobei sie letztendlich meistens in irgendeinem Café strandeten, reichlich Milchkaffee tranken und über die Passanten herzogen.
Eigentlich wollte Sandrine doch vorbeikommen, dachte sie. Allzu viel ist heute sowieso nicht los bei diesem grauen Wetter, dann könnten wir wenigstens ein bisschen quatschen.
So in Gedanken vertieft, bemerkte sie gar nicht den großgewachsenen Mann, der bereits seit einiger Zeit vor ihrem Stand verweilte und eines der Fundstücke von Oma Fernandes Speicher in der Hand hielt.
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