„ Ahhh! Blödes Pferderad!“, ruft Hannah und versucht es zu bändigen. Leo drückt mit beiden Händen auf den Sattel. Hannah versucht den Lenker zu fassen, doch das Rad beginnt sich im Kreis zu drehen und zu hüpfen. Hannah springt zur Seite, um nicht den Lenker in den Bauch gestoßen zu bekommen. Das Rad nutzt die Gelegenheit und schwebt langsam in die Höhe. Doch Leo lässt nicht los, umschließt mit seinen Händen weiterhin den Sattel und wird mit dem Rad in die Höhe gezogen. Seine Füße verlieren den Halt auf dem Boden. Als das Rad an die Kinderzimmerdecke anstößt, beginnt die Klingel zu ertönen. Leo hängt in der Luft am Sattel. Er schreit: „Hannah! Mach was! Das Ding galoppiert sonst noch durch die Decke! Wenn meine Eltern aufwachen, haben wir ein Problem!“
Hannah greift sich die Ollopa2 um ihrem Hals und ruft: „Leo! Pass auf!“ BLITZ!
„ Aua!“ Leo kracht mit dem Fahrrad auf den Boden des Kinderzimmers. Hannah rennt zur Absturzstelle und hebt das umgekippte Fahrrad von Leos Beinen. Der stöhnt und jammert. „Ah. Hannah! Was war das denn bitte?“ „Entschuldige bitte, Leo! Ich weiß auch nicht was los war. Das Pferd ist durchgedreht. Äh das Rad!“ Sie stößt das Gefährt zur Seite. Mit einem Klingeln der Radglocke rutscht das Fahrrad in die Ecke des Zimmers und bleibt dort liegen. „Du kommst um diese Uhrzeit, um mir zu zeigen, dass du ein wildes Fahrrad, äh einen wilden Radgaul ollopafiert hast, der mich fast umbringt? Ganz toll! Wirklich!“, schimpft Leo, steht langsam auf und knipst endlich das Zimmerlicht an.„Äh, ich glaube, das Pferd war nicht wild, sondern nur aufgeregt“, ertönt die Stimme von Collin. Hannah und Leo schauen gleichzeitig zur Couch. Leos Freund hat sich mittlerweile aufgesetzt. „Sorry, dass ich euch nicht geholfen habe. Aber ich war gerade etwas überfordert“, spricht er weiter. „Was hast du gerade gesagt?“, fragt Hannah. Sie kennt Collin nur flüchtig. Er wohnt im Kinderheim in Großburgklein und geht dort auch zur Schule. Er ist so alt wie Leo, also etwa ein Jahr älter als Hannah. Er und Leo haben sich vor ein paar Monaten in der Stadtjugendkapelle kennengelernt. Leo wollte Schlagzeugspielen lernen. Collin spielt Gitarre. Die Jungs hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Hannah hört aber lieber Musik statt selbst zu spielen. So sind Collin und Leo in den vergangenen Monaten richtig gute Freunde geworden, ohne dass Hannah es so richtig mitbekommen hat. Die zwei haben sich öfter ohne sie getroffen, um gemeinsam zu musizieren. Heute übernachtet Collin bei Leo. Hätte Hannah das gewusst, hätte sie sich nicht ohne Anmeldung durch die Wand in Leos Kinderzimmer ollopafiert. Vor allem nicht in ihrem Schlafanzug und mit diesem pinkfarbenen viel zu kleinem Mädchenrad, an dem noch immer Stützräder sind. „Peinlich“, denkt sich Hannah. Außerdem hatten sie und Leo sich versprochen, niemandem von den Ollopas und Lumeria zu erzählen. „Was hast du gesagt?“ wiederholt Leo Hannahs Frage. „Dass ich überfordert war. Ich sehe nicht jeden Tag ein wieherndes Rad, das abhebt“, antwortet Collin. „Nein! Das meinte ich nicht!“, antwortet Hannah. „Das Pferd war nervös?“, fragt sie weiter. „Nicht nervös. Eher aufgeregt und voller Vorfreude, glaube ich“, antwortet Collin. „Woher willst du das wissen?“, fragt Hannah. „Ich hab seinen Herzschlag gehört. Und der hat sich freudig und nicht nervös angehört“, antwortet Collin. Leo schüttelt den Kopf. „Krass! Kann dein Computer auch Herztöne messen?“, fragt Leo. Hannah schaut etwas verdutzt. „Äh nein. Glaub’ ich nicht. Zumindest nicht, dass ich das wüsste“, antwortet Collin. „Vielleicht hab ich’s mir auch nur eingebildet.“ Hannah weiß nicht, was sie sagen soll. In ihrem Kopf sind so viele Gedanken. Eigentlich wollte sie Leo doch nur den leuchtenden Kern aus Lumeria zeigen. „Welcher Computer?“, fragt sie stattdessen. „Leo meint mein Hörimplantat. Das ist eine Art Hörgerät, das in meinem Kopf eingesetzt ist.“ Collin fährt sich mit der Hand durch seine schulterlangen Haare und schiebt sie hinter seinem Ohr etwas zur Seite. Hannah erkennt etwas Dunkles. Sie nickt, ohne genau zu wissen, was Collin ihr genau gezeigt hat. „Aha. Und damit hast du ein Supergehör?“, fragt sie etwas schnippisch. Im gleichen Moment ärgert sie sich über den etwas eingebildeten Tonfall, den sie verwendet hat. Sie wollte Collin keine freche Frage stellen. Aber irgendwie ärgert sie sich, dass er überhaupt bei Leo ist. Was soll sie jetzt nur machen? Dieses Chaos mit dem Rad. Die Ollopa2. Collin hat ja gesehen, wie sie plötzlich im Kinderzimmer erschienen ist und wie sie mit der Kamera das Rad wieder zu Fall gebracht hat. „Nein. Kein Supergehör! Es lässt mich wieder normal hören“, antwortet Collin ganz ruhig. „Ohne den Computer im Kopf bin ich fast taub.“ Hannah schluckt. Das wusste sie nicht. Jetzt kommt ihr das pinkfarbene viel zu kleine Fahrrad mit den Stützrädern gar nicht mehr so peinlich vor. Sie schämt sich stattdessen, Collin so angezickt zu haben. „Ah. Okay. Ach so! Äh… Tschuldigung!“, stottert Hannah verlegen. „Schon gut. Kannst du ja nicht wissen. Ich bin’s gewohnt, dass ich das mit meinem Gehör oft erklären muss. Ist okay“, antwortet Collin. Hannah geht zu ihrem Fahrrad und öffnet den Reißverschluss der Satteltasche, die am Rad befestigt ist. Sie wühlt etwas darin und zieht schließlich ein schwarzes mit violetten Sternen verziertes Augenpflaster hervor. Sie zieht die Schutzfolie ab und klebt sich das Pflaster auf ihr rechtes Auge. „Ich kenne das mit den Erklärungen. Von mir will auch immer jeder wissen, warum ich mir mein Auge zuklebe“, sagt sie. Collin und Hannah beginnen zu grinsen. „Dann stimmt es also doch, dass ihr zwei Zauberkameras habt?“, fragt Collin plötzlich. „Was? Äh… Leo?“, fragt Hannah und wirft ihm einen ernsten und zugleich fragenden Blick zu. Leo hat sich wieder auf sein Bett gesetzt und zuckt nur mit den Schultern. „Ich hab ihm nur den Herzmodus erklärt.“ Hannah öffnet den Mund, weiß aber nicht, was sie sagen soll. Weil Hannah an ihrem vergangenen Geburtstag plötzlich zwei Ollopas hatte, hat sie Leo die Ollopa1 geschenkt. Leo musste versprechen, dass er die Kamera niemandem zeigt und keinen Blödsinn damit anstellt. Hannah dachte, dass nur sie und Leo miteinander ollopafieren. Jetzt fühlt sie sich etwas betrogen von Leo. Es war ihr Geheimnis. „Herzmodus? Und was hast du ihm gezeigt?“ Bevor Leo etwas sagen kann, antwortet Collin: “Wir wollten unsere Longboards fliegen lassen.“ Leo grinst. „Das hat auch gut funktioniert!“ ergänzt er. „Was? Ihr seid mit euren Longboards durch die Gegend geflogen? Spinnt Ihr? Man hätte euch doch sehen können! Außerdem haben wir uns doch versprochen, nur gemeinsam zu ollopafieren“, kritisiert Hannah. „Wir sind doch nur nachts und auch nur in Großburgklein herumgeflogen“, verteidigt sich Leo. „Und was ist dann mit deinem Fahrradpferd? Da war ich auch nicht dabei, als du es ollopafiert hast.“ Hannah weiß nicht, was sie sagen soll. „Streitet euch doch nicht“, unterbricht Collin die Stille. „Ich fand es super lustig, mit den Longboards herumzufliegen. Uns hat ja niemand gesehen. Und dein Pferdefahrrad fand ich auch voll witzig. Ich werde niemandem von den Ollopas verraten! Versprochen!“ Collin steht vor seiner Couch und hält seine Hand in die Höhe, um sein Versprechen auch deutlich zu zeigen. Irgendwie findet Hannah diesen langhaarigen Jungen ganz sympathisch. Aber kann sie ihm vertrauen? Sie kennt ihn ja gar nicht richtig. Bis gerade eben wusste sie nicht einmal, dass er schwerhörig ist und so ein Implantat tragen muss, um richtig zu hören. Andererseits scheint Leo ihm zu vertrauen. Und Leo ist ihr bester Freund. „Okay“, sagt Hannah schließlich. „Du musst versprechen, keiner Menschenseele auch nur ansatzweise irgendetwas von unseren Kameras zu erzählen. Auch nicht von Lumeria und meinem Onkel, falls dir Leo darüber auch schon etwas verraten hat. Außerdem möchte ich noch eine gelbe Ollopafie von dir machen, bevor ich weitererzähle. Wäre das für dich in Ordnung?“ Collin hält seine Hand noch immer in die Höhe. Er schaut ernst und nickt. „Ich verspreche es und schwöre, niemandem etwas zu erzählen. Aber was meinst du mit dieser gelben Ollopafie?“ Während Collin noch spricht, hebt Hannah die Ollopa2 vor ihr nicht verklebtes Auge und nimmt Collin ins Visier. BLITZ!
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