Als Hannah sich vorstellt, wie ihre gemalten Halblichter zum Leben erwachen, wird sie traurig. Sie vermisst die Halblichter, die sie in Lumeria bereits kennengelernt hat. Sie vermisst den weißen Husky Blacky und die so flauschig weiche schwarze Katze White. Und vor allem vermisst sie ihren Papa. Wie geht es ihm wohl? Sie weiß zwar, dass ihr Papa nur als ein Hologramm, als ein Wesen aus Licht, in Lumeria existiert. Im echten Leben ist Noah leider tot. Ihr Vater war Feuerwehrmann und ist bei einem Einsatz gestorben. Ihr Onkel hatte Hannah davor gewarnt, zu glauben, Noah sei ihr echter Vater. In Lumeria leben keine echten Menschen, auch wenn sie fast so aussehen. In Lumeria leben Lichter und Halblichter, Abbilder, die aber so täuschend echt wirken, dass Hannah das oft vergisst. Als Hannah damals verstanden hat, dass ihr Vater nur ein Hologramm ist, hat sie sich sehr traurig gefühlt. Sie war ihrem Papa so nah und doch so fern, denn ihr Halblicht-Vater hatte Hannah nicht erkannt. Trotzdem fand sie dieses Treffen unbeschreiblich schön. Hannah war ihrem Papa irgendwie nahe, auch wenn dieser Papa nur aus Licht war und seine eigene Tochter nicht mehr kannte.
Die Frucht mit Zauberkern
Hannah ist müde, aber nach dem Albtraum vom Riesenmonchichi, der Großburgklein verwüstet hat, kann sie nicht mehr schlafen. Außerdem ist sie zu traurig, wenn sie an ihren Papa denkt. Mama schläft bestimmt schon. Um sich nachts zu ihr ins Bett zu kuscheln, fühlt sich Hannah schon zu alt und zu groß. Aber sie fühlt sich so alleine. Ihre Blicke wandern in ihrer Kuschelhöhle umher, als sie auf dem Schreibtisch die braune, golfballgroße Kugel entdeckt. Hannah krabbelt zum Tisch und nimmt den harten, glatten Ball in die Hand. Sie wollte die Kraftsaftfrucht, die sie in Lumeria von der Zauberzwergin Gax Gaja bekommen hat, schon oft probieren. Doch irgendwie hatte sie sich nie getraut. Gax Gaja hatte die Besonderheit dieser Frucht nur angedeutet, aber nicht genau erklärt, was es damit auf sich hat. Hannah kann sich nur daran erinnern, dass die Zauberzwergin aus den Früchten die leckeren Wunschkuchen backen kann. In ihrer Traurigkeit versucht Hannah den Ball wie eine Mandarine mit den Fingern zu öffnen. Als hätte jemand die Schale genau in der Mitte mit einem scharfen Messer auseinandergeschnitten, lässt sich die Hülle in zwei gleich große Hälften abziehen. Hannah legt die beiden harten Schalen auf den Tisch und behält die Frucht in ihrer Hand. Etwas weich, glitschig und klebrig fühlt sie sich an. Sie ist warm und riecht nach Kaugummi. Ohne lange zu überlegen, steckt sich Hannah die ganze Fruchtkugel in den Mund, den sie kaum schließen kann, aber das ist ihr egal. Sie umschlingt mit ihren Lippen die Frucht und beginnt zu kauen. Mit jedem Bissen strömt Hannah warmer fruchtiger und zugleich erfrischender Saft in den Mund. So etwas hat sie noch nie zuvor gekostet. Das Fruchtfleisch scheint mit jeder Mundbewegung aufzuplatzen und kleine kitzelnden Mini-Explosionen auszulösen. Es schmeckt fruchtig und erfrischend und fühlt sich gleichzeitig etwas warm an. Es fühlt sich irgendwie an wie Honig und Brause, wie kühlende Milch nach einem Biss in eine feurigscharfe Chilischote. Als würden kleine Eiswürfel an einem heißen Sommertag in frischer Cola zischen. Sie kaut und schluckt den leckeren Saft und versucht gleichzeitig mit der Zunge die letzten Fruchtfleischstückchen vom glatten runden Kern zu lösen. Es kommt Hannah so vor, als ob das Fruchtfleisch Freude und Geborgenheit in ihrem Körper verbreitet. Als Hannah mit ihren Fingern den runden Kern aus ihrem Mund nimmt, fühlt sie sich nicht mehr müde, nicht mehr traurig und auch nicht mehr alleine. Ihr kommt es so vor, als könnte sie fliegen. Sie fühlt sich federleicht und stark zugleich. Am liebsten würde sie sich sofort wieder nach Lumeria ollopafieren, um der siebenzipfelmützigen Zauberköchin Gax Gaja für diese unglaubliche Frucht zu danken. Sie hält den glatten Kern vor ihr Gesicht und betrachtet ihn genauer. Zuerst erscheint ihr die Kugel schwarz. Doch als sie den Kern von der anderen Seite betrachtet, scheint er bunt zu schimmern. Er beginnt langsam zu leuchten und seine Farben zu wechseln, wenn sie die Kugel dreht. Hannah ist fasziniert von diesem Farbenspiel in ihrer Hand, als sich plötzlich feine Konturen auf dem Ball abzeichnen. Es sind unterschiedliche Bilder, die sich auf der Kugel bewegen. Erst sieht Hannah das Gesicht von Blacky, der bellt. Dann strahlt sie Whites Auge an, bevor ihr Papa Noah auf dem Ball zu erkennen ist. Plötzlich ist die Kugel wieder rabenschwarz. Vor Schreck lässt Hannah die Kugel in die Kissen ihrer Kuschelhöhle fallen. Was war das? Sofort hebt sie die Kugel wieder auf. Die Bilder sind weg. Es ist nur noch ein schwarzer, glatter, matter Ball zu sehen. Das kann doch nicht sein, denkt sie sich. „Was war denn das?“, fragt sie sich selbst. Das muss sie Leo zeigen. Nicht nur, dass sie gerade eben täuschend echte Bilder von Halblichtern gesehen hat, Hannah hat sich seit ihrer Rückkehr aus Lumeria auch diesen Halblichtern nicht mehr so nah gefühlt. Das muss sie Leo zeigen und erzählen. Die roten Ziffern auf ihrem Wecker zeigen 23:20 Uhr. Morgen hat Leo Geburtstag. Das heißt, er hat genau in 40 Minuten Geburtstag. Dann bekommt er wahrscheinlich so viele Geschenke, dass er abgelenkt ist und keine Zeit hat, sich mit der Kraftsaftfrucht zu beschäftigen und an Lumeria zu denken. Ich muss ihm den leuchtenden Kern sofort zeigen, denkt sich Hannah.
Das Pony-Rad mit Lichtantrieb
Hannah kriecht auf allen Vieren aus ihrer Kuschelhöhle und greift sich das dunkelblaue Fahrrad mit pinkfarbenen Stützrädern, das in der Ecke steht. Sie schiebt das Fahrzeug wieder durch die Öffnung zwischen den bunten Tüchern hinein in ihr Lumeria-Versteck. In einem kleinen Korb am Lenkrad liegt die Ollopa2. Sie legt den Kern der Kraftsaftfrucht behutsam in den Korb und hängt sich die Kamera um den Hals. Anschließend blickt sie durch den Sucher hindurch auf ihr Rad und drückt den roten Auslöser. BLITZ!
Das Rad beginnt zu wiehern. Es schwebt plötzlich über dem Holzfußboden. Die Reifen drehen sich und der kleine Drahtesel bäumt sich auf wie ein Pony. Hannah grinst über beide Ohren. „Ein Pferd will mir meine Mama ja nicht kaufen, da ollopafiere ich mir eben ein Pferde-Flugrad!“, sagt sie zu sich selbst. Sie grinst erneut und steigt auf das wiehernde Rad, das ihr eigentlich schon viel zu klein ist.BLITZ! Hannah hat noch eine weitere Ollopafie von ihrem Rad gemacht. Sie hält die Kamera noch einmal vor ihr Auge und visiert die Mauer mit den vielen Bildern an. Da hängt auch ein Foto von Leo, das sie jetzt in den Fokus nimmt. Sie drückt auf den blauen Knopf. BLITZ!Rummmms! Dingeling! „Ahhh“, schreien Leo und sein Freund Collin gleichzeitig. „Erschreck uns doch nicht immer so“, ruft Leo, der in seinem Bett liegt und anscheinend bis gerade eben tief geschlafen hat. Er blickt Hannah wütend an, die gerade ohne Vorwarnung in Leos Zimmer ollopafiert ist. Nur das Licht des Fahrrads erleuchtet Leos dunkles Zimmer. „Ruhig meine Süße“, sagt Hannah zu ihrem Fahrrad, das sich aufbäumt und wiehert. Hannah hält den Lenker fest in ihren Händen, bis sich das Rad beruhigt hat und sie absteigen kann. „Er meint es nicht so!“, flüstert Hannah ihrem Rad zu. Collin traut seinen Augen nicht, „Wo kommst du denn her? Hast du gerade mit deinem Fahrrad gesprochen?“, fragt der Junge, der unter einer Bettdecke auf einer Couch liegt und anscheinend ebenfalls durch Hannahs plötzliches Gepolter aufgewacht ist. „Hannah! Du kannst uns doch nicht einfach so aufwecken!“, motzt Leo. „Außerdem hab ich dir schon tausendmal gesagt, dass ich es unfair finde, wenn du ohne mich ollopafierst!“ Er springt aus seinem Bett und geht zum immer noch schnaubenden Fahrrad. „Cool! Herzmodus, oder?“, fragt er Hannah. Sie nickt und grinst Leo an. „Entschuldige, Leo. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast, aber ich muss dir unbedingt was erzählen!“ Sie will ihr Rad zur Seite schieben, als es sich erneut aufbäumt und das Vorderrad schnell zu drehen beginnt. Der Kern der Kraftsaftfrucht, der im Korb am Lenkrad lag, wird durch Leos Zimmer geschleudert und rollt unter die Schlafcouch, auf der Collin gerade liegt.
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