Die Taktik, es weg zu blinzeln, half in der letzten Zeit am besten. Einfach nicht bewegen und totstellen, war meine Devise.
„Emma, schau her!“, rief es nun lauter. So laut, dass ich erneut erschrak und aufstand. Die Bank, auf der ich gesessen hatte, hinter mir und die Fäuste geballt, nahm ich all meinen Mut zusammen. „Nein! Nein, ich will nicht!“, schrie ich in die Stille hinein und ließ meine Augen weiterhin geschlossen. Als eine ganze Weile nichts mehr zu hören war, entspannten sich meine zu Fäusten geballten Hände und ich fing wieder an zu atmen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich meinen Atem angehalten hatte. So schwer purzelte die Luft nun aus mir heraus. Ich öffnete langsam meine Augen und blinzelte in den Tag.
Da schaute mich voller Freude ein Gesicht an. Er stand so nah vor mir, dass ich ihn hätte riechen müssen. Ich war so mit dem Unterdrücken beschäftigt gewesen, dass ich nicht realisiert hatte, dass er real war. Ich blinzelte ein paarmal und versuchte zu realisieren, wen ich dort stehen sah. Seine dunklen Augen sahen mich durchdringend an. Seine dunklen Haare wehten im Wind und die Anker-Tätowierung auf seinem Oberarm war gut sichtbar, denn er stand in einem weißen T-Shirt vor mir. Liam.
„Hi“, sagte er und grinste mich an. Es war eine Ewigkeit her, dass ich Liam zu Gesicht bekommen hatte. Und das Einzige, an das ich in diesem Moment dachte, war die Hütte, in der ich ihn das letzte Mal vor ein paar Monaten gesehen hatte. Neben Becky. Mit diesem mitleidigen Gesichtsausdruck, der mir und Ava mitzuteilen versuchte, dass wir nicht ganz dicht seien und alles nur falsch interpretierten. Na ja, eigentlich hatte er nur mir das mitteilen wollen. Denn Ava war doch gar nicht da gewesen. Automatisch fasste ich mir an den Hinterkopf, an dem noch immer ein Knubbel von dem Schlag darauf zu spüren war.
„Freust du dich, mich …“
Bevor er seinen Satz beenden konnte, holte ich aus und schlug ihm mit meiner Faust mitten in sein Gesicht. Direkt auf seiner Nase. Der Schlag verfehlte seine Wirkung nicht. Rücklings fiel Liam um und nach hinten in einen Laubhaufen. Voller Entsetzen hielt er sich seine Nase zu und starrte mich an. Erst wütend, schnell jedoch wieder besänftigt.
„Habe ich wohl verdient, Emma. Kein Problem. Willst du nochmal zuschlagen oder können wir reden?“
Ich ließ Liam liegen. Einfach so. Drehte mich weg und lief in Richtung Klinik. Ich wollte nicht reden. Nicht mit jemandem, der mich so hintergangen hatte. Der all das, was geschehen war, tolerierte und mich hier in der Klinik zurückließ. Ich wollte nicht reden. Ich wollte ihn leiden sehen. So leiden sehen, wie ich gelitten hatte. Wie Ava gelitten hatte und wie es Becky tun würde.
Doch ich wusste bis da noch nicht, dass ich Liam ganz schnell wiedersehen würde. Und das schneller, als mir lieb war.
Am nächsten Morgen betrat Dr. Miller mein Zimmer und grinste mich an. Sie zog wie immer die Vorhänge auseinander, damit etwas Tageslicht eintreten konnte, und öffnete das Fenster einen Spalt, damit frische Luft hineinkam. Danach stellte sie mir ein Tablett mit meinem Frühstück hin und eine neue Pillendose. Es musste also Montag sein. Denn immer Anfang der Woche bekam ich eine neue Pillendose mit allen wichtigen Tabletten für mich. Das Grinsen verging Dr. Miller auch nicht, als sie meine Werte am Monitor ablas und sich zu mir drehte, um mich zu fragen, wie ich denn geschlafen hatte. Ich lag noch in meinem Bett und streckte mich genüsslich.
„Gute Laune?“, fragte ich stumpf.
„Jap“, kam knapp von ihr herüber und sie lächelte noch mehr. „Da haben Sie Mr. Brown aber ganz schön eine verpasst, muss ich sagen.“
Nun musste ich ebenfalls lachen. „Das war ein Reflex“, log ich. Und Dr. Miller wusste, dass es gelogen war.
„Nun ja, Sie werden wohl miteinander auskommen müssen. Denn Sie können Ihrem ehemaligen Freund nicht jedes Mal die Nase brechen, wenn Sie ihn sehen. Das wäre dann nun täglich!“, zwinkerte mir Dr. Miller zu.
„Bitte was?“, erschrak ich, als der Stolz bezüglich der gebrochenen Nase durch das tägliche Sehen in meinem Gehirn ersetzt wurde.
„Ja, Sie haben richtig gehört, Mr. Brown ist nun ebenfalls Patient hier.“ Dr. Miller wirkte besorgt.
„Aber …?“, wollte ich fragen, da lieg sie bereits von meinem Bett weiter weg.
„Das sind mir in letzter Zeit zu viele Jugendliche und zu viele seltsame Ereignisse. Das sollte nicht zum Trend werden“, drehte sich Dr. Miller um und schaute mich nachdenklich an. „Ich möchte, dass es Ihnen und Mr. Brown schnell wieder besser geht und Sie ein Leben ohne die Klinik meistern können. Ich werde immer da sein, wenn Sie Hilfe benötigen. Aber mein Ziel ist es, dass Sie hier rauskommen. Sie beide.“
Mit einem Anflug von Erstaunen über den plötzlichen Gefühlsausbruch von Dr. Miller nickte ich ihr zu. Ihr Gesicht erhellte sich sogleich wieder und sie rückte ihre Bluse gerade. „Gut“ sprach sie nun zufriedener und ging in Richtung Zimmertür.
„Der Kaffee kommt auch gleich“, lächelte sie mir zu.
Gerade, als ich ein „Danke“ mit meinen Lippen geformt hatte, ergänzte Dr. Miller: „Mit Besucher.“ Und ich erstarrte. Das war keine gute Kombination. Erst Kaffee, dann Liam, ja! Aber nicht beides zur gleichen Zeit. Das konnte heiter werden. Soweit ich Dr. Miller kannte, wäre ein „Nein“ egal gewesen in dem Moment. Sie mochte es nicht, wenn man Besucher nicht wertschätzte. Denn manche Patienten in der Klinik bekamen nie Besuch. Und das konnte man ihnen ansehen. Daher sollte es einem immer viel bedeuten, wenn Besuch vorbeikam. So die Theorie. Nur dass es sich hier um einen Verräter handelte, der plötzlich weg gewesen war, als man ihn am meisten gebraucht hatte. Und Menschen in meinem Umfeld, die mordlustige Gedanken hegten und eine Gefahr für jedermann waren, wurde hier wohl außer Acht gelassen. Ich hatte mich bisher sicher in der Klinik gefühlt. Bis jetzt.
Nur wenige Minuten später, als ich die morgige Stille zu genießen vermochte, ging die Tür erneut auf. Dr. Miller hatte nicht zu viel versprochen. Liam stand in der Tür, mit zwei Bechern Kaffee in der Hand. Seine Nase zierte ein weißes Tape und seine Augen waren rötlich unterlaufen. Ich musste ihn doch fester getroffen haben, als mir in dem Moment des Wutausbruchs bewusst gewesen war. Gut so, dachte ich fröhlich und verschränkte meine Arme.
Liam schien dies wahrzunehmen und er stellte meinen Kaffeebecher auf den Tisch neben meinem Bett, anstatt ihn mir hinzuhalten. Als wäre er nun in Abwehrhaltung mir gegenüber. Was ich seltsamerweise verstehen konnte. Daher lockerte ich meine Arme und legte sie neben mir auf mein Bett. „Was willst du hier? Ich brauche keinen Besuch, und deine Nummer im Park war nicht nett. Ich …“
„Ich weiß“, sprach Liam leise und unterbrach meinen aufkommenden Redeschwall. „Es tut mir leid, Emma. Ich war nicht da, als du mich gebraucht hast. Ich habe es mit der Angst zu tun bekommen. Mit der Angst, so zu enden wie meine Schwester hier in der Klinik. Wie Ava damals, die keinen Ausweg mehr gekannt hat und …“
„Die keinen Ausweg mehr gekannt hat?“ Mein Hals wurde trocken und ich begann seltsam zu krächzen. „Keinen Ausweg? Meinst du das ernst? Du hast sie doch mit mir gefunden. Du hast ihr Leben doch gekannt. Na ja, nicht gut, aber immerhin etwas. Glaubst du wirklich, sie hat keinen Ausweg mehr gesehen? Glaubst du immer noch, dass es Selbstmord war?“ Entsetzt setzte ich mich etwas auf in meinem Bett und schlug die Decke zurück. Fest entschlossen aufzustehen und auf Liam loszugehen.
Als ich die Decke zurückschlug, ging Liam ein paar Schritte zurück. Ich dachte, weil er nach dem Fausthieb im Park nun verstanden hatte, dass ich auch anders konnte. Aber nein, er deutete auf meine Beine und starrte mich mit offenem Mund an.
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