Deine Ma ist gestorben.“ Endlich stand Tante Lynn auf und ging weiter weg von mir. Ich atmete kurz auf und ließ meinen Tränen freien Lauf. Auch ich erhob mich, um ihr gegenüber zu stehen. Tante Lynn drehte sich wieder zu mir um. „Weißt du, ich habe es auch versucht. Ich habe mir die letzten Wochen mehrfach zum Ziel gesetzt, nicht mehr aufwachen zu müssen. Denn was würde als Nächstes folgen? Was wären die nächsten Schritte? Wie würde es weitergehen? Zur Arbeit kann ich bereits seit Wochen nicht mehr gehen. Dafür bin ich nicht mehr stark genug. Wahrscheinlich habe ich bereits meine Kündigung im Briefkasten liegen, ich weiß es nicht. Nicht einmal das schaffe ich. Den Weg zum Briefkasten.“ Ich ging einen Schritt näher an Tante Lynn heran. „Ich habe mit Dr. Miller gesprochen, Emma. Und habe lange darüber nachgedacht. Ich will einfach nicht mehr und ich will uns alles Weitere ersparen. Du bist die Tochter von Stacey Hensley. Emma Hensley. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis auch du keinen Ausweg mehr finden würdest. Und dich dazu entschließt, mich zu verlassen.“ Ich riss meine Augen auf und wollte Widerworte geben. Niemals würde ich das in Erwägung ziehen. Niemals hegte ich auch nur einen Gedanken an diesen irrationalen Ausweg. Da griff sich Tante Lynn in ihre Hosentasche. Sie zog eine Spritze heraus, die in eine dafür vorgesehene Plastikbox gepackt war. Ich erkannte die Box sofort, da es die gleiche war, die auch hier in der Klinik verwendet wurde. Ich ging wieder einen Schritt zurück und begann schneller zu atmen. „Es tut mir so leid, Emma. Aber ich nehme dir einfach diese Entscheidung ab und helfe dir, dass alles nicht erleben zu müssen. Danach kannst du deinen Frieden finden und ich den meinen. Dann muss ich mir keine Gedanken mehr um dich machen und du musst keinen Hass gegen mich aufbauen, weil ich nur mit mir selbst beschäftigt bin. Ach, Liebes, ich meine es einfach nur gut.“ Tante Lynn ging einige Schritte auf mich zu und griff meinen Arm. Ohne auch nur einen Hauch einer Reaktion schaute ich dem ganzen Spektakel zu und konnte es nicht fassen. Tante Lynn wollte mich umbringen? Sie wollte mir eine Spritze geben, dass ich einschlafen würde? Und das mit dem Einverständnis von Dr. Miller? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich wollte das nicht und vor allem nicht so. Ich war vor kurzem erst 17 Jahre alt geworden, das war doch viel zu jung, um aufzugeben. Außerdem ging es mir doch besser. Oder nicht? Gerade, als ich etwas sagen und meinen Arm wegziehen wollte, wurde mir schwummrig. Die Nadel steckte bereits in meiner Vene. Tante Lynn ließ meinen Arm los und ging mit den Händen vor ihrem Gesicht mehrere Schritte nach hinten. Im nächsten Augenblick wurde mir schlecht und ich fühlte mich benommen. Die Tür sprang auf und Dr. Miller kam mit einigen Assistenzärzten in mein Zimmer gerannt. Ein großer, junger Arzt stellte sich hinter mich und war bereit, mich aufzufangen. Meine Lippen bewegten sich und ich hörte meine Stimme in einer sehr entschleunigten und dumpferen Version „Warum?“ fragen. Dann fiel ich nach hinten um. Einige schreckliche Sekunden später sah ich nach oben und sah Liam über mir stehen. Er zwinkerte mir zu und hielt meinen Oberkörper fest in seinen Armen. Er passte auf, dass meinem Kopf ein weiterer Schlag auf den Boden erspart bleiben würde. „Wach auf, Emma! Das ist nicht real, es ist noch nicht so weit!“, sagte er mit einer genauso dunklen und langsamen Stimme, wie ich meine vorher vernommen hatte. Meine Augen schlossen sich.
Ich öffnete meine Augen wieder. Wie viel Zeit war vergangen? Wo war ich und vor allem, war ich tot? Ich lag wie gewohnt in meinem Zimmer in der Klinik und schaute verwirrt, traurig und sehr benommen in Richtung Fenster. Hier saß niemand. Und das war auch gut so. Wem konnte ich denn noch trauen? Wer wäre für mich da und würde mir helfen? Das würde ich in den nächsten Wochen definitiv noch herausfinden.
Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee, Waffeln und frischem Brot. Die Morgensonne leuchtete bereits hell von draußen durch das Schlafzimmerfenster hinein. Wo kam der Geruch denn her, fragte sich Stacey, die eigentlich dachte, ihr Mann wäre bereits mit Emma aus dem Haus.
Zerknirscht und mit einem dicken Kopf stand Stacey auf und ging, wie jeden Morgen, erst einmal ins Bad. Haare kurz kämmen, Knoten rein, Zähne putzen und Katzenwäsche, mehr war morgens vor dem ersten Kaffee nicht drin. Für gewöhnlich musste Stacey ihren Kaffee selbst zubereiten, heute wohl nicht. Oder kam der Duft von draußen? Nein, je näher Stacey der Treppe, die nach unten führte, kam desto mehr roch sie das leckere Frühstück. „Hallo?“, räusperte sich Stacey vorsichtig. Ihre Stimme klang noch sehr trocken von der Nacht. Dennoch hatte sie bereits eine erste Vermutung, wer oder was sie unten erwarten würde.
„HAPPY BÖÖÖÖRSDAY!!“, schrie es plötzlich von vorne. Lynn, Staceys Schwester, stand in der Tür und hatte ein Partyhütchen auf. Sie hielt eine große Tasse Kaffee in ihren Händen und öffnete ihre Arme für eine Umarmung. Stacey schmunzelte, ihre Vermutung hatte sich bestätigt. Dann umarmte sie ihre Schwester. „Danke, das ist sehr lieb von dir, wäre aber nicht nötig gewesen.“
„Weiß ich doch, aber wenn dein Mann schon nicht dran denkt, dann muss ich das eben übernehmen.“
„Wo ist Emma?“
„Schläft noch, siehst du?!“
Lynn rollte den Kinderwagen heran und die kleine Emma schlummerte friedlich darin. Nicht mal das Geschrei von Tante Lynn konnte sie aufwecken.
„Und wo ist …?“ Weiter kam Stacey leider nicht, da unterbrach Lynn sie bereits.
„Los, setz dich. Es gibt Frühstück mit selbstgemachtem Brot.“
Nach sie gegessen hatten, gingen Lynn und Stacey in den Park um die Ecke. Emma schlief immer noch. Sie war ein so liebes Kind. Schrie nie und schlief viel. Darüber war Stacey sehr froh und dankbar.
Lynn sagte schon eine ganze Weile nichts mehr und schaute Stacey verträumt an.
„Ist was?“, schmunzelte Stacey zurück.
„Nein, na ja, doch. Aber ich wollte es dir erst nach deinem Geburtstag sagen. Denn heute ist dein Tag und den feiern wir gemeinsam, so gut es eben geht.“
Stacey schnaufte kaum merkbar und lief an ihrer Schwester vorbei. Dabei versuchte sie, so freundlich wie es nur ging zu grinsen, um ihr zu signalisieren, dass sie keine Lust auf Reden hatte und den Vorschlag, mit den Neuigkeiten bis nach ihrem Geburtstag zu warten, ebenfalls sehr begrüßte. Denn sie wusste bereits, um was es ging. Und das konnte warten. Zumindest bis morgen.
Ein kleines Stück weiter bekam Stacey plötzlich Kopfschmerzen und wollte sich kurz hinsetzen. Eine Bank stand unter einer großen Eiche und lud geradezu ein, eine Pause zu machen. „Können wir uns bitte einen Moment hinsetzen?“, fragte sie mit zitternder Stimme an Lynn gewandt.
„Dein Kopf wieder?“ Lynn schaute mitfühlend zu Stacey hinüber und machte eine einladende Geste in Richtung Bank. Erleichtert setzte sich Stacey hin und atmete auf. Nur kurz, dachte sie sich. Diese Kopfschmerzen würden sie noch umbringen. Sie traten immer im ungünstigsten Zeitpunkt auf. Und meistens, wenn ihre Schwester in der Nähe war. Nicht, dass sie sie damit in Verbindung brachte, sie fand den Zeitpunkt nur immer sehr schade.
Emma fing an zu quicken und machte auf sich aufmerksam. Langsam wurde sie wach und blinzelte mit ihren großen Kulleraugen auf. Sie weinte aber nicht. Lynn bemerkte das und nahm sie gleich aus dem Kinderwagen, um Weiteres zu verhindern. „Bleib du sitzen, ich nehme Emma und laufe eine Runde da vorne um den Baum. Alles gut!“
Stacey bekam in diesem Moment nichts über ihre Lippen, schenkte Lynn aber ein ernst gemeintes Danke-Lächeln. Stacey litt seit einigen Monaten an den sogenannten Cluster-Kopfschmerzen. Das sind plötzliche Schmerzen, die einen fast lähmen können. Patienten spüren meistens zu spät, wenn der Schmerz kommt, und können ihn daher relativ schlecht abwehren. In der Behandlung, in der Stacey bereits war, sagte man ihr immer wieder, dass es Zeit brauchte, um daran zu arbeiten. Dass Stress, zu viel Trubel und wenn möglich Koffein gemieden werden sollten. Die ersten beiden Punkte waren in Ordnung für Stacey, aber ihren Kaffee konnte sie nicht aufgeben. Solange sie keinen besseren Ersatz gefunden hatte.
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