Stacey fragte sich immer wieder, womit sie so eine tolle Schwester wie Lynn verdient hatte. Sie war immer da. Passte auf Emma auf und half, wo sie konnte. Und dass, obwohl sie gerade selbst Einiges um die Ohren hatte und Lehrerin werden wollte. Sie hatte viel zu lernen, Prüfungen zu schreiben und Vorträge zu besuchen. Stacey schaute nun kurz auf, um Lynn und Emma zu suchen. Die beiden spazierten den steinigen Weg im Park entlang. Ein Stückchen geradeaus von Stacey weg. Nun bogen sie um die große Eiche herum. Stacey bemerkte die Flasche Wasser, die neben ihr stand, und wunderte sich, dass sie ihr vorher nicht aufgefallen war. Ihrem Kopf ging es in dem Moment besser, als sie einen Schluck Wasser nahm. Es war seltsam, aber Stacey machte sich keine weiteren Gedanken. Sie war nur froh, dass es so war. Wo war eigentlich Ava? Die Kleine von Lynn. Das hatte Stacey sich noch gar nicht gefragt weshalb sie sich plötzlich schlecht fühlte.
Erneut schaute sie auf, um nach Emma zu schauen, sah Lynn aber nicht mehr. Auch in weiter Ferne war niemand zu sehen. Panisch stand Stacey auf und rief nach ihrer Schwester. Nichts! Keine Antwort.
Gerade, als Stacey loslaufen wollte, zu der Stelle, an der sie die beiden zuletzt gesehen hatte, erinnerte sie sich, dass der Kinderwagen noch an der Bank stand und sie ihn mitnehmen sollte, bevor er ihr gestohlen werden würde. Der Park war nämlich nicht nur für sie sehr einladend. Auch viele Jugendliche und Obdachlose rannten hier herum, um nach gewinnbringenden Dingen Ausschau zu halten. Das wusste Stacey, weil ihr hier bereits zweimal ein Fahrrad, einmal eine Uhr und eine Wickeltasche gestohlen worden war. Und beide Male hatte sie davon nichts mitbekommen. Auch Lynns Handtasche und ihre eigene hingen am Wagen. Also weit konnte sie nicht gekommen sein. Warum hatte sie auch solch eine Panik in diesem Moment? Vor wenigen Minuten waren beide noch zu sehen und alles war gut gewesen. Sie würden schon zurückkommen. Stacey bemühte sich, ruhig zu bleiben und durchzuatmen.
Dennoch nahm sie den Kinderwagen und ging langsam Richtung Weg, auf dem die beiden eben noch herumgeschlendert waren. Da hörte sie Stimmen. Nicht vor ihr und nicht neben ihr, sondern hinter ihr. Das musste aus dem Gebüsch kommen. Lynn? Sie erkannte ihre Stimme nach nur wenigen Sekunden. Langsam und geräuschlos stellte Stacey den Wagen wieder ab und schlich langsam hinter die Bank, Richtung Gebüsch.
„Wir haben einen Plan, und den wirst du uns nicht zunichtemachen, hörst du!“
Stacey erkannte die Stimme nicht, die mit Lynn sprach. Dafür flüsterte diese zu sehr. Aber sie klang dunkler als Lynns. Daraus schloss Stacey, dass es eine Männerstimme sein musste. Emma wimmerte leise, kaum hörbar. Da fasste Stacey ihren ganzen Mut zusammen und bewegte ihre Hand Richtung Gebüsch. Gerade, als sie einige der Blätter davon wegschieben wollte, kam Lynn um die Ecke gelaufen.
Voller Entsetzen schaute Lynn Stacey an. „Was machst du denn da?“, fragte sie aufgebracht, fast wütend. Einen kurzen Moment sah es so aus, als hätte sie ihre Hand über Emmas Mund gehalten. Stacey war sich in diesem Moment nicht sicher. Sie fühlte sich ertappt und misstrauisch der ganzen Situation gegenüber. Ein wenig schämte sie sich sogar. Dieses Gefühl verflog schnell, als sie dachte, die Hand ihrer eigenen Schwester auf dem Mund ihrer Tochter gesehen zu haben.
„Was machst du denn da? Ihr wart vor ein paar Minuten noch dahinten und … Gib mir Emma, bitte!“ Emma begann zu weinen und streckte die kleinen Hände ihrer Mutter hin. Als Stacey Emma auf den Arm nahm, wurde sie wieder still. Was war hier gerade passiert? Und warum fühlte sich das alles so seltsam an? Sollte sie Lynn darauf ansprechen, was sie eben gehört hatte? Sie konfrontieren? Aber was hatte sie eigentlich gehört? Nichts! Nichts Aussagekräftiges!
Lynn schaute Stacey verwundert an. „Wir sind eine Runde spazieren gegangen, wie ich es gesagt habe. Es scheint dir ja auch wieder besser zu gehen. Wollen wir dann weiter?“
„Ich glaube, ich lege mich zuhause ein wenig mit Emma hin. Können wir uns später wieder treffen?“
Merklich geknickt und mit einem starren und tiefen Blick an Stacey gerichtet, nickte Lynn, ohne eine weitere Mimik auf ihrem Gesicht zuzulassen. Abrupt versuchte sie nun, ihr freundlichstes Grinsen aufzusetzen, das nicht gekünstelt wirken sollte. Dies gelang ihr aber nicht. Nicht gegenüber Stacey. Dafür kannte sie ihre Schwester schon viel zu lange und zu gut.
„Gut, dann in zwei Stunden bei dir?“
„Ja, gut. Ich werde wach sein. Danke.“ Stacey legte Emma wieder in ihren Kinderwagen und drehte sich weg. Sie lief den steinigen Weg wieder zurück in Richtung Zuhause. Sie wusste, dass Lynn noch immer an der Stelle am Gebüsch stand und ihr hinterher starrte. Das tat sie immer, wenn sie überlegte oder sich unrecht behandelt fühlte.
Stacey dachte darüber nach, was sie gehört haben könnte und was nicht. Warum diese Situation gerade so schlimm für sie war. Und ob sie bereits intuitiv wusste, dass etwas nicht stimmte? Ihre Gedanken kreisten umher, aber kamen immer wieder zu dem einen Entschluss.
Niemand, aber auch wirklich niemand, hat das Recht, meiner Tochter Emma den Mund zuzuhalten. Das wird ein Nachspiel haben. Wenn sie nur an diesen Moment dachte, kamen ihr die Tränen. So schnell würde Lynn nicht mehr auf die kleine Emma aufpassen.
In der Klinik war es nicht aufregend. Neben den Tests, die Dr. Miller mir aufbrummte, den öden Spaziergängen, immer getrennt von meiner Ma oder jedem anderen, den ich kannte, und den stumpfen, grauen Gemälden, die noch immer die Klinik vereinnahmten, passierte nicht viel. Die Hoffnung, einen Besuch durch Tante Lynn oder jemand anderen zu erhalten, war bereits vor Monaten gestorben. Meine Klasse würde sich bestimmt das Maul zerreißen und jeder Einzelne hatte ohnehin schon gewusst, dass ich einmal in der Klinik landen würde. So, wie sie es alle schon vorhergesagt hatten.
Ohne meine Wahnvorstellungen und seltsamen Begegnungen in der Klinik wurde es ruhig. Ich ergraute immer mehr, wie die besagten Gemälde. Nicht einmal Ava zeigte sich mir. Dad war wohl auch schon lange gegangen und hatte seine Aufgabe erfüllt. Denn es war doch alles nur Einbildung. Nach der langen Zeit in der Klinik glaubte ich das nun ebenfalls. Es war einfach trist und eintönig. Von Tag zu Tag.
Bis zu diesem Donnerstag. Die Tage, die vergingen, kreiste ich mir immer an meinem Wandkalender ein. Rot bedeutete schlechter Tag, grün bedeutete guter Tag. Leider waren die meisten Tage rot umrandet, da ich mich zu oft müde, vollgepumpt mit Medikamenten, nutzlos oder einfach nur gelangweilt fühlte.
Doch diesen Donnerstag war etwas los. Es kam Leben in die Klinik und ich musste das alles unfreiwillig mit ansehen. Als es draußen im Park kalt war, die bunten Blätter bereits von den Bäumen fielen und es so stürmte, dass man nicht mehr ohne Strickjacke und Schal rauskonnte, war ich am liebsten draußen. Das war einfach meine Jahreszeit. Mit traurigen Augen schaute ich den mittlerweile herunter gekrachten Ast an, an dem die Reifenschaukel von damals hing. Hier würde kein Kind mehr von seiner Mutter angeschubst werden und sich frei wie ein Vogel fühlen. In Gedanken versunken schweiften meine Blicke umher. Ich hatte das Zeitgefühl schon längst verloren.
„Emma!“, flüsterte es plötzlich. Voller Panik, es könnte Einbildung sein oder wieder von einer Stimme aus meinem Kopf kommen, riss ich die Augen auf und erstarrte. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen. „Emma“, flüsterte es erneut. Ich kniff meine Augen so fest zu, dass es schon schmerzte. Ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, wieder etwas von meinen Wahnvorstellungen zurückzubekommen. Ich wollte das nicht. Denn ich wollte die Klinik in diesem Leben noch einmal von außen sehen. Und Dr. Miller versprach mir dies immer wieder, wenn ich gut mitarbeitete. Und das tat ich. Von Anfang an. Sogar Rückschläge, die zeitweise auftraten, versuchte ich so gut es ging zu verstecken. Denn ich war gesund und es war nicht real.
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