„Ja, und hier hast du genauso wenig aufzutauchen. Das war von Anfang an klar. Das gehört zu unseren Absprachen. Schon vergessen? Warum solltest du dich nicht mehr auf mich verlassen können? Wir haben das doch alles schon durch. Wie oft denn noch?“ Angstvoll blickte sich Tanja nach ihrer Kollegin um, die schnell den Kopf in die entgegengesetzte Richtung drehte.
„Wir können hier nicht weiter reden. Moni findet bestimmt einen Grund, hier wieder aufzutauchen. Ich bringe dich jetzt zur Tür und rufe dich heute Nacht zu Hause an. Bleib ruhig. Du bist vollkommen durch den Wind. Mach jetzt keinen Fehler.“
Petra zog geräuschvoll die Nase hoch und verschmierte mit ihrem Handrücken den Rotz im Gesicht. Angeekelt reichte ihr Tanja ein Papiertaschentuch.
„Hier, nimm und mach dich verdammt noch mal sauber. Wie bist du eigentlich hierher gekommen? Doch wohl nicht mit deinem eigenen Auto?“
„Tanja, ich habe jetzt Feierabend. Kommst du?“, war Monis ungeduldige Stimme zu vernehmen.
„Hörst du? Versprich mir, dich auszuruhen. Hast du noch genügend Schmerzmittel? Manchmal habe ich dich ja wegen deiner burschikosen Art und deiner Fäkalsprache, zu der du manchmal neigst, verabscheut. Ich muss aber sagen, so würdest du mir heute viel besser gefallen, als in dem Zustand, den du hier an den Tag legst. Also, werde wieder die Alte.“
Petra stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab und quälte sich mühsam aus dem Sofa zum Stand. Tanja umfasste ihren Arm und zog sie langsam Richtung Ausgangstür.
„Lass das“, schüttelte Petra energisch Tanjas Hand ab. Es fiel ihr jedoch schwer, sich ohne Hilfe gerade aufzurichten, schlurfte mit kleinen Schritten, den Oberkörper weit gebeugt, zum Tresen, an dem sie sich mit beiden Händen festklammerte.
„Na, genug gesehen und gehört? Dann fangen Sie mal an, ihre Geschichte zusammenzubasteln. Vergessen Sie aber nichts. Schau’n Sie mal.“ Mit einem leisen Stöhnen schob sie mit einer Hand ihre langen, braunen Haare hinter das rechte Ohr, hob langsam ihren Kopf, rang sich ein Lächeln ab, das ihr schmerzverzerrtes, knochiges Gesicht in eine hässliche Fratze verwandelte. Moni starrte entsetzt auf das blutunterlaufene Auge, das das Gesicht zu beherrschen schien und schnappte geräuschvoll nach Luft.
„So, und nun machen Sie was draus und wehe, es entspricht nicht der Wahrheit. Dann komme ich wieder, und wir verfassen gemeinsam eine Geschichte.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, löste sie sich vom Tresen und schlurfte aus der Hotelhalle.
„So gefällst du mir wieder“, rief Tanja lachend hinterher, um auf diese Weise ihr Entsetzen zu kaschieren, die aufgekommene Angst zu unterdrücken.
„Sag mir, dass das nicht wahr ist. Ich träume wohl. Hat die mir eben gedroht? Die gefällt dir doch wohl nicht wirklich?“, stotterte Moni atemlos, konnte ihre Angst nicht verbergen.
„Mach Feierabend. Sie wird nicht wieder kommen. Nein, ich mag sie nicht. Komm, fahr nach Hause“, murmelte Tanja, ohne ihre Kollegin anzuschauen.
„Du, ich kenn die doch. Wenn ich mir das schreckliche Auge wegdenke, das andere hatte ja auch eine undefinierbare Farbe, mir mal vorstelle, wie groß und klapperdürr die wahrscheinlich ist, wenn sie sich so richtig hinstellt, die langen braunen Haare, dieses Schmutzigbraun und dann dieser entsetzliche Schlabberlook. Na klar, die war doch schon mal hier. Bei dir. Die hat hier gewohnt, hat doch bei mir eingecheckt. Warte mal. Hey, jetzt fällt mir sogar ihr Name ein. Stautmeister, na klar, Stautmeister heißt die. Die war deinetwegen hier oder habt ihr euch hier kennengelernt? Ihr habt euch doch prima verstanden, habt nach deiner Dienstzeit an der Bar gehockt, die Köpfe zusammengesteckt und stundenlang geredet. Sag mir ja nicht noch einmal, dass du sie nicht magst. Das ist aber alles irgendwie komisch.“ Mit jedem Satz nahm Monis Stimme an Lautstärke zu, steigerte sich in schmerzende Höhen.
„Ich übernehme. Der Fahrstuhl bewegt sich. Es kommen Gäste. Benimm dich gefälligst und hau ab“, herrschte Tanja ihre Kollegin an, ohne auf die Ausführungen einzugehen. Unwillig kopfschüttelnd schnappte Moni ihre Handtasche, verließ grußlos das Hotel, betrat Sekunden später erneut die Halle.
„Darüber reden wir noch mal, verlass dich drauf. So lasse ich mich von deiner Freundin nicht behandeln und von dir auch nicht“, fauchte sie Tanja an und rannte erregt aus dem Haus, als sich die Fahrstuhltür öffnete, und Gäste die Halle betraten.
„Scheiße“, murmelte Tanja, bevor sie mit einem berufsmäßig aufgesetzten Lächeln die Gäste empfing.
Müde und abgekämpft stand Tanja am frühen Morgen vor ihrer Haustür und suchte hektisch in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Zum wiederholten Mal durchwühlte sie die Seitentaschen, konnte sich nicht erinnern, in welchen Ecken des vollgestopften, überdimensionalen Beutels ihre Suchergebnisse bereits erfolglos verlaufen waren. Sie zwang sich, ihre fahrigen Bewegungen unter Kontrolle zu bringen, die Gedanken an das nächtliche Treffen mit Petra zu verdrängen. Es gelang ihr nicht. Sie war sich bewusst, dass die Ereignisse der letzten Nacht, sie weiter verfolgen würden, mit Verdrängung nicht ungeschehen zu machen waren. Wütend umklammerte sie den Boden des Beutels, drehte ihn schwungvoll und schüttelte den Inhalt auf den Fußabstreifer. Sekundenlang betrachtete sie regungslos das Sammelsurium, das sich vor ihren Füßen ausbreitete. Widerwillig ging sie in die Hocke, schob mit beiden Händen Unmengen von Schminkutensilien, Kugelschreiber, beschriebene und unbeschriebene Notizzettel, Geldbeutel, benutzte Taschentücher, ein halbes, angebissenes, hartes Brötchen, eine Kleinbildkamera ziellos zu immer neuen Häufchen zusammen.
„Scheiße, wo ist das Mistding nur?“; entfuhr es ihr leise. Erneut begann sie hektisch mit ihrer chaotischen Suche, betrachtete nachdenklich das Handy, das sie zusammen mit einem Päckchen Erfrischungsbonbons von einem Häufchen hob. Achtlos schmiss sie die Packung in das angrenzende Blumenbeet, reinigte das Display ihres Handys mit dem Jackenärmel, spreizte den Zeigefinger, um die Tastatur zu bedienen und hielt in der Bewegung inne. Es beunruhigte sie, dass sie Petra in der Nacht telefonisch nicht mehr erreicht hatte. Sie brauchte Gewissheit, in welchem Zustand Petra sich befand und würde im Wohnzimmer einen erneuten Versuch starten. Hastig steckte sie das Handy in ihre Jackentasche.
„Was machst du hier?“
Tanjas Kopf schnellte in die Höhe. Erschrocken starrte sie mit leicht geöffnetem Mund, was ihr ein dümmliches Aussehen verlieh, auf ihren Mann, der breitbeinig in der geöffneten Haustür stand.
„Ich suche meinen Hausschlüssel und kann ihn nicht finden“, nuschelte sie vor sich hin, während ihre Hände erneut den ausgebreiteten Inhalt ihrer Handtasche durchsuchten.
„Warum hast du denn nicht geklingelt? Ich mache dir doch die Tür auf. Da musst du doch nicht deinen ganzen Krempel hier auskippen. Komm, ich helfe dir hoch. Liebes, ich bin so froh, dass du wieder hier bist.“
Tanja richtete sich auf, betrachtete nachdenklich ihren Mann, schien ihn erst jetzt bewusst wahrzunehmen. Bruchstückhaft rief sie sich ihren Streit ins Gedächtnis, der durch Petras unsäglichen Auftritt in den Hintergrund gedrängt worden war. Verärgert trat sie gegen ihre Tasche, versuchte mit einem Ausfallschritt über deren Inhalt ins Hausinnere zu gelangen, nahm emotionslos in Kauf, dass ihr Absatz sich mit einem knirschenden Geräusch in den Schminkspiegel bohrte.
„Habe ganz vergessen, dass du zu Hause bist, dass Sonntag ist“, stammelte sie verwirrt, setzte ein gezwungenes Lächeln auf und versuchte, in dem Gesicht ihres Mannes zu lesen. Seine bohrenden Fragen und ihre ausweichenden Antworten vom Vortag standen wieder zwischen ihnen, ein Zustand, den sie unbedingt beenden wollte, nicht wusste, ob sie für aufwändige Verschleierungstaktiken nach der kräftezehrenden Nacht noch fähig war. Sie hoffte auf das immerwährende Harmoniebedürfnis ihres Mannes und wurde in ihrem Wunsch bestätigt.
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