Dagegen redete Ulrich ununterbrochen bei der Arbeit, die ihm leicht von der Hand ging.
Er sagte: «Die gelbe Gefahr. Es geht schon los. Dominik hat da eine geniale Voraussage getroffen, Arno. Merken Sie was? Lesen Sie gar keine Zeitung?»
Die kleinen Augen Ulrichs glänzten triumphierend, der Babyflaum auf seinem Kopf sträubte sich, während Arno spöttisch erwiderte: «Sagten Sie gelbe Gefahr? Der Drucker hat über Ihren Gelbauszug gemeckert.»
Mir vertraute er später an: «Ein seniler Dummkopf und ein falscher Hund. Er klatscht bei Kretzschmar herum, was wir reden. Also halte deine Klappe.»
Günter Baum, Lehrling wie ich, hatte den watschligen Gang fetter kleiner Jungen. In seinen braunen Augen las ich die mir gut bekannten uferlosen Träume.
«Ich will Karikaturist werden», gestand er, «und du?»
Zum Beweis reichte er mir seine Zeichnungen, auf denen Menschen in komische Situationen verstrickt waren, in Situationen, die sie allein nicht meistern konnten. So ähnlich schien mir Baums Lage. Nie brachte er eine Arbeit pünktlich und gut zu Ende. Den Rügen Arnos setzte er kindliche Tränen entgegen, die seine runden Backen herunterrollten. Er tat mir leid, und ich stellte Arno zur Rede.
«Lehrjahre sind keine Herrenjahre», sagte Arno, «und wieso ist der Bengel eigentlich so fett?»
Baums Eltern hatten ein Lebensmittelgeschäft. Während wir unsere klitschigen Brotschnitten auf dem Kanonenofen rösteten, stieg uns der Duft von Wurst und Käse in die Nase. Die runden Augen Baums sahen uns friedlich an, die Augen eines gedankenlosen, gesättigten, nicht unfreundlichen Tieres.
Arno bemerkte lakonisch: «Keine Freundschaften, das ist Kretzschmars Prinzip. Warte ab, bis du ihn besser kennst. Dann wirst du auch verstehen, warum hier einer des anderen Deibel ist. Unter uns gesagt, Gehilfenjahre sind auch keine Herrenjahre.»
Das Auffallendste an Kretzschmar war ein mächtiger Siegelring, den er an der rechten Hand trug. Ständig rieb er ihn an der Strickjacke, die an dieser Stelle merklich abgenutzt war. Er wohnte in der ersten Etage des Vorderhauses, das ihm gehörte.
An den Wochenenden mussten wir bei ihm erscheinen. Jeden Freitag prüfte er die Fortschritte, die wir machten. Mit quengliger Stimme verteilte er Lob und Tadel. Gewöhnlich empfing er uns in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, einem riesigen alten Möbel, über das ein Bild von Baluschek hing. Nachdenklich richtete er den Blick auf die Schlote und Hochöfen und bemerkte salbungsvoll: «Immer streben, immer nach Vollkommenheit streben.»
Eine lederbezogene Klubgarnitur nahm das halbe Zimmer ein. Kretzschmar forderte uns nie zum Sitzen auf.
Einmal sagte Arno: «Kretzschmar ist ein Fuchs. Nazi war er nicht, nur eben so Mitläufer. Fremdes Eigentum hat er wohlweislich nicht angetastet. Nach dem Kriege trieb er sogar einen Juden auf, der ihm seine Menschenliebe bescheinigte. Der Betrieb ist renommiert. Kretzschmar zahlt anständig. Soviel wirft die Klitsche immerhin ab. Wie das Geschäft läuft, weiß nur er allein und vielleicht noch Tamm, sein Treiber. Alles alter Stamm hier. Gegen Kretzschmar ist nichts zu sagen. Am besten macht man seine Arbeit und sucht nicht aufzufallen.»
Beklommen nickte ich.
Jule legte sich. Nachts weckte mich häufig sein trockener Husten. Gepflegt wurde er von Großmutter. Er stand nur noch stundenweise auf, saß frierend herum und redete viel vom Sterben.
Dieser November war nasskalt und regnerisch. In Eimern und Schüsseln fing ich das durchlaufende Wasser auf. Dann lag ich wach, lauschte auf Jules Husten und die klingenden Tropfen. Jedes Gefäß gab einen besonderen, nur ihm eigenen Ton. Hin und wieder wurde das Dach ausgebessert, aber immer fand das Regenwasser einen neuen Weg in unsere Wohnung.
Manchmal betrachtete ich die beiden Fotos meiner Eltern, einen kugligen Mann mit Brille und ein Mädchen im langen schwarzen Einsegnungskleid. Die Hände meiner Mutter staken in weißen Handschuhen, hielten das kleine Buch und den Strauß Blumen.
«Dein Vater», sagte meine Großmutter, «der hat viel gelesen. Immer war das bei den Büchern, er wollte etwas Besonderes sein. Sicherheit suchte er. Hitler wollte er nicht, Beamter bleiben auch nicht. Da fing er an zu malen. Das war dann seine Welt, bloß es war nicht die richtige Welt.»
Ich gab mir Mühe, zu den beiden Menschen auf den Fotos Beziehungen herzustellen, aber es gelang mir immer seltener. Es war komisch, dass ich dem Mädchen mit dem kindlich, ernsten Gesichtsausdruck und dem dicken Mann mit Brille mein Leben verdanken sollte.
Von meiner Mutter wusste meine Großmutter noch weniger als ich, von der ich noch manchmal ihre Hände zu spüren glaubte. Wie es schien, war das Verhältnis zwischen meiner Mutter und ihren Schwiegereltern nicht gut gewesen. Einundvierzig kamen wir auseinander. In ihren Briefen an mich beschwor meine Mutter den Tag, der uns alle wieder zusammenführen würde.
Du musst tapfer sein, schrieb sie, das geht ja vorüber.
Für mich gab es keinen Grund, tapfer zu sein. Ich hatte die Ereignisse, die uns trennten, nicht gewollt und nicht herbeigeführt.
Es ging vorüber, nur anders, als meine Mutter gemeint hatte. Bei einem Luftangriff kam sie ums Leben. Das Haus, in dem wir gewohnt hatten, brannte ab. Fast zur gleichen Zeit fiel mein Vater. Meine Großmutter holte mich aus Schlesien zurück, wohin ich mit der Schule evakuiert worden war. Seitdem lebte ich in der Blumenstraße.
In den Kriegsjahren fuhr ich hin und wieder ein paar Wochen lang in eine Schule des Berliner Randgebietes, selten. Wir verbummelten gleichmäßig, Vera, Helga, Vigo und ich. Was wir wussten, verdankten wir der Blumenstraße.
Bruno verkaufte Knöpfe, Gummiband und anderen Krimskrams auf einem Markt, der zweimal in der Woche in der Boxhagener Straße abgehalten wurde. Nebenbei besorgte er die Geschäfte der Hausbewohner. Alle kannten ihn, und er kannte beinahe alle. Im Kopf des Buckligen wimmelte es von Gedanken und Unternehmungen.
Ich saß häufig bei ihm in der Küche, dem einzigen Raum, den er wirklich benutzte. Meine Großmutter glaubte, dass der Umgang mit Buckligen Glück bringt.
«Dein Vater liebte Bilder und machte auch welche», sagte Bruno.
Aus dem Küchenschrank kramte er einen Packen abgegriffener Zeichnungen und Aquarelle hervor. Auf dem Tisch, der mit Wachstuch bespannt war, breitete er sie aus.
«Das hat dein Vater gemacht», sagte er.
Stiller Sonntage entsann ich mich, an denen mein Vater an seinen Bildern gearbeitet hatte.
«Ich habe sie ihm abgebettelt», sagte der Bucklige, «er trennte sich schwer von seinen Bildern.»
Ich betrachtete die Landschaften mit den Seen in der Mitte und den Kiefern im Vordergrund. Ich besaß selbst einen Stapel dieser Bilder. Gelungen schien mir eigentlich keines. Was ich zu sehen vermochte, war die arbeitende Hand meines Vaters, sein Kopf mit dem glatten schon ergrauten Haar.
«Für dich wird das nun ein Beruf», sagte Bruno bedeutsam, «das vererbt sich.»
«Was sich nicht alles vererben soll», sagte ich.
Unter dem Nachlass meines Vaters befanden sich Bücher meist naturwissenschaftlichen Inhalts mit Randnotizen von seiner Hand, ein paar Hemden, Wäsche und ein Anzug, in den ich erst hineinwachsen musste.
«Glaubst du, die Zeichnungen sind etwas wert?», fragte ich zweifelnd.
Der Bucklige zögerte mit der Antwort.
«Darauf kommt es doch nicht an», sagte er.
«Worauf kommt es denn an?»
Bruno schwieg. Er fischte eine seiner Sternenkarten aus dem Schrank, der alles Mögliche beherbergte, Esswaren, Bücher und Geschirr, löschte das Licht und hielt die Karte hoch. Die Sterne, mit einer grünlichen Phosphorfarbe gemalt, begannen zu leuchten.
«Mein Planetarium», sagte er stolz und begann die Stellung der Sterne zu erklären.
«Dein Vater», nahm er das Gespräch wieder auf, «wenn er machte was ihm gefiel, dann fühlte er sich wohl. So was hat seinen Wert aus sich selbst heraus.»
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