Vielleicht war es gut, dass Felicitas Marzipan nicht kam. Sie hatte ihrer Tochter schon vor Wochen geraten, einen Psychiater aufzusuchen. Und Hubertus hatte Felicitas Marzipan nur mit Mühe davon abhalten können, umgehend selbst bei einem Facharzt anzurufen. Wenn sie ihrer Mutter nun auch noch von den Träumen erzählte, würde sie sie wahrscheinlich gleich in eine Klinik einweisen lassen. Die Sache mit den Spielen hatte wirklich für genug Aufregung gesorgt. Nella seufzte. Es klang wirklich zu komisch.
Die Marzipans liebten Brettspiele. Jeder in der Familie sammelte sie. Sogar Felicitas Marzipan brachte von jeder Reise mindestens ein neues mit. Hubertus hatte die Regale in den Hausfluren bis zur Decke verlängert, um alle unterbringen zu können.
Zum Zeitvertreib hatte Nella vor einigen Monaten eine der bunten Kisten aus dem Regal gezogen und die Figuren aufgestellt. „Zwergenreise" hieß das Spiel. Weil niemand Zeit hatte, beschloss sie, eine Partie gegen sich selbst zu spielen. Und dann musste sie irgendwie die Kontrolle verloren haben. Anstatt in ihrem Zimmer stand sie plötzlich auf dieser Wiese, auf der die Grashalme ihren Kopf überragten. Und dann kam der Riesenkäfer. Nella schüttelte sich beim Gedanken daran. Das behäbige Tier hatte sie übersehen und hätte sie mit seinem großen schwarzen Körper fast zerquetscht.
War es Traum oder Wirklichkeit? Nella war sich zuerst nicht sicher und testete verschiedene Spiele. Beim „Mensch ärgere dich nicht!" geriet sie in eine Prügelei. Das blaue Auge schimmerte noch tagelang in ihrem Gesicht. Der Staub, den ihr die Feen bei ihrer Wanderung durch das „Bergland Catanoia" auf die Arme pusteten, ließ sich mit Seife nicht abwaschen und glitzerte mehrere Wochen auf ihrer Haut.
Da hatte Nella Gewissheit: Ihre Reisen auf die magischen Ebenen, so nannte sie die Spielewelten, waren real. Doch wieso sie die Welten wechseln konnte, wusste sie nicht. Sie hatte ihre Mutter eingeweiht, Professorin Felicitas Marzipan, in der Hoffnung, sie hätte eine Erklärung für alles. Aber für ihre Mutter war sie einfach die Verrückte.
„Zuviel Fantasie, Nella. Du bist zu oft alleine. Niemand verschwindet in einem Spiel", hatte Felicitas Marzipan gesagt. Dann hatte sie Nella seufzend und geistesabwesend über den Kopf gestrichen. Was sollte sie bloß machen mit dem Kind? Therapie, das war das Einzige, was Felicitas Marzipan zu Nellas Problem einfiel.
Hubertus hatte sie ebenfalls lange und besorgt angesehen. Wenn auch auf eine andere Art. Hätte Nella es nicht besser gewusst, hätte sie schwören können, Angst in seinem Gesicht zu lesen. „Wenn du schon zwischen den Welten wanderst, dann meide bitte diese", hatte er zu ihr gesagt und einen kleinen Holzkasten in der hintersten Ecke des großen Regals verstaut.
In jenem unscheinbaren braunen Kasten befand sich Hubertus' Heiligtum. Er hütete und hegte es, als handle es sich bei den Spielfiguren um echte Lebewesen, die seinen Schutz und seine Pflege brauchten. Das Spiel und Hubertus gehörten zusammen. Instinktiv akzeptierten alle im Haus diese unausgesprochene Regel. Hubertus hätte das Kistchen also nicht extra verstecken müssen. Doch für Nella war sein Handeln ein Zeichen dafür, wie ernst ihr Großvater ihre Geschichte nahm. Mehr noch, sie spürte den Schrecken, der ihn gepackt hatte.
Er glaubte ihr und schien äußerst besorgt, wenn auch auf völlig andere Art und Weise als ihre Mutter. Nella lächelte. Spielewelten, magische Zeitebenen. Mittlerweile kannte sie Hunderte davon. Auch dieser Spielstein aus Mutters Päckchen kam ihr bekannt vor. Ein Halbmond, der in der Mitte ausgefranst war. Er weckte keine guten Erinnerungen in ihr. Beklommen drehte sie ihn in den Händen.
In diesem Moment schlug der Verletzte auf dem Sofa die Augen auf. Er hustete und holte Nella aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
„He", sie eilte zu ihm, setzte sich neben Helen, die das Handgelenk des fremden Jungen umfasst hatte und seinen Puls fühlte.
Benommen blickte Justus die beiden an. „Das Mädchen, die Eule", flüsterte er.
„Caissa", dachte Nella, „die Eule. Hat er Caissa gesehen?"
„Trink!" Hubertus war herangetreten und hielt dem Jungen die Tasse mit süßem, warmem Tee an die Lippen. Der Fremde trank einen Schluck und schloss dann wieder die Augen. Hubertus betupfte den blutigen Striemen auf seiner Wange.
„Wer bist du?", fragte Nella schüchtern.
„Justus, Toronto", flüsterte der Fremde leise. Dann schloss er die Augen wieder und atmete ruhig.
Das Holz auf dem Beistelltisch klackte kurz, als Hubertus einen kleinen Stein darauf legte. „Er lag auf dem Weg zum Gartentor. Ich schätze, er gehört dem Jungen", murmelte er.
Wortlos blickte Nella auf den Stein. Die Form kannte sie. Ein Halbmond, der an der Innenseite ausgefranst war. Das Gegenstück zum Fund, der im Päckchen ihrer Mutter gesteckt hatte. Ein Spielstein, der eigentlich in eine andere Welt gehörte, zu einer anderen magischen Ebene. Nella wusste das besser als ihr lieb war. Aber wie kam der Typ an den Stein? Darüber zermarterte sie sich den Kopf.
„Lasst ihn schlafen. Er erholt sich schon wieder. Ihr solltet euch auch noch ein wenig aufs Ohr hauen. Es dämmert bald." Helen schickte Hubertus und Nella nach oben. Sie breitete eine Decke über Justus und setzte sich neben ihn. Höchstpersönlich würde sie den Genesungsschlaf dieses Jungen bewachen.
„Boaaaa, Uäng, Pffffff" - komische Töne brachten Justus' Bewusstsein zurück. Schief und scheußlich bohrten sie sich in seinen Kopf. Ein Prusten, ein Schnaufen, ein Kreischen. Sie taten ihm weh, streiften die pulsierende Wunde an seiner Wange, weckten den tickenden Schmerz in seiner Hand.
„Er wacht auf", sagte eine Stimme, die er kannte. Im Vergleich zu dem schrecklichen Husten und Prusten kam sie Justus äußerst freundlich vor. Aber auch etwas dünn. Als würde ein Vogel gegen einen Tornado ansingen. „Uääng, booong, pfiiiiiiiii.“
Justus blinzelte und blickte in das Gesicht eines Mädchens: grüne Augen, dunkelrote Locken, etwas pummelig und blass. Sie sah ihn besorgt an.
„Alles klar?", fragte sie.
„Nella, lass mich mal!" Das Mädchengesicht verschwand aus seinem Blickfeld. „Ich bin Hubertus, Nellas Opa", stellte sich der Mann mit dem Bart vor. Sein knorriges Gesicht erinnerte Justus an einen alten Baum.
„Steinmondträger, du warst vorhin schon einmal wach. Kannst du dich erinnern?", fragte Hubertus.
Justus wollte beherzt mit dem Kopf schütteln. Doch der heftige Schmerz, der ihn durchzuckte, sorgte dafür, dass er es nur ganz leicht tat. Steinmondträger hatte der Mann ihn genannt und ihn dabei angesehen, als wolle er ihn prüfen.
„Wie geht's dir jetzt?" Hubertus zauberte ein Lächeln in sein knorriges Gesicht. „Meine Enkelin hat dich tatsächlich mit unserem Gartentor niedergestreckt. Ich habe ihr schon hundert Mal gesagt, sie soll nicht so aus der Tür stürmen." Es klang wie eine Entschuldigung.
Uääääng, buoong, töööööööt – da war es wieder, dieses scheußliche Geräusch. Justus verzog schmerzhaft das Gesicht.
„Mein Vater und seine Schüler", sagte Nella.
Den Beruf ihres Vaters zu erklären, war eine weitere Peinlichkeit in ihrem Leben. Marian Marzipan spielte Trompete und hatte einst großen Erfolg als Straßenmusiker gehabt. Irgendwann hatte er das Herumreisen satt und folgte stattdessen seiner Passion: Er wollte musikalisch unbegabten Menschen die Musik näher bringen. Dazu hatte er das Label „Schiefe Töne" gegründet. An drei Tagen in der Woche gab er zu Hause in der Sommerstraße Musikunterricht für Menschen ohne Ton- und Taktgefühl.
Nella war sich sicher: Spätestens nach dieser Erklärung würde der verletzte Junge wissen, in welchem Irrenhaus er hier gelandet war. Wahrscheinlich würde er so schnell wie möglich Reißaus nehmen, egal wie wackelig er noch auf den Beinen war. Hier in dieser Familie war wirklich nichts normal. Aber Justus ging nicht weg. Er lachte sie angesichts ihres Geständnisses nicht einmal aus. Offensichtlich hatte er andere Probleme, als sich Gedanken über Marian Marzipan und seine Musik zu machen. Justus wechselte sogar das Thema:
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