Er konnte manchmal sehr unbedeutende Menschen seiner Freundschaft für wert halten; dann mussten sie allerdings blond sein, mit einem Siegfried-Typus, der seiner romantischen Bewunderung für die nordische Rasse einen Gegenstand bot. Ja, wenn sie beschränkt waren, dann verstärkte das in seinen Augen ihre Ähnlichkeit mit dem nordischen Ideal-Typus. In solchen Freundschaften zeigt sich bei ihm manchmal fast bis zur Karikatur, wie eigenartig aus Erotik und Theorie sein Gefühlsleben gemischt war. Und auch dem Dämonischen gegenüber versagte deshalb seine Einfühlung, ja sogar manchmal seine Vorsicht. Der Vergleich mit Lassalle drängt sich auf. Auch bei diesem die Hemmung, die allzu laute Begleitmusik des Verstandes: „Ich bin, wie Ihnen vielleicht nicht entgangen sein wird,“ schreibt Lassalle an Lina Duncker, „nicht ein Mensch wie andere. Ich bin, um mich so auszudrücken, ein durch und durch theoretisches Wesen. Ich lebe mit dem Geiste, ich kann nur gleichgestimmte Wesen lieben. Beeinträchtigen, zerstören Sie meine theoretische Schätzung Ihres Geistes und besonders Ihres Charakters, und meine Liebe ist verflogen, unaufhaltsam und unwiederbringlich.“ Aber Lassalle ist primitiver, roher als Walther Rathenau; in einem gewissen Augenblick bezwang seine Sinnlichkeit doch seinen Verstand: da entführte er Helene von Dönniges. Rathenau kommt über das Hindernis nie fort; er bringt es nur bis zur Sehnsucht. „ Ich kenne diese Sehnsucht“ : die Sehnsucht nach dem Gefühl der vollen Hingabe, die seine Kompliziertheit ihm nie gestattete. Er begreift, sozusagen als Dichter, die volle Hingabe, fühlt sich in sie ein, besitzt für sie auch den Ausdruck in Worten, kann sie aber hinter den Worten nicht rein aufbauen. Diese Hemmung macht seine Erotik in den Augen anderer geheimnisvoll und problematisch, enttäuscht die, die nach seinen Worten volle Hingabe erwartet hatten, und gibt ihm selbst das Gefühl der Vereinsamung, weil die Brücke, die er zwischen sich und andere durch Hingabe bauen möchte, nie ganz das andere Ufer erreicht.
Eine opferbereite, in die feinsten fremden Regungen sich einfühlende und sie zart streichelnde Freundschaft scheint daher auch Frauen gegenüber das stärkste Gefühl gewesen zu sein, das seine Natur ihm gestattete; ein Gefühl, das er fast in gleicher Wärme Männern wie Frauen entgegenbringen konnte. In den veröffentlichten Briefen an Wilm Schwaner, Ernst Norlind, Constantin Brunner kommen Stellen vor, deren Gefühlston nicht weniger stark ist als der von Briefen, die fast Liebesbriefe sind, an Frauen. Alles was zu einer solchen Freundschaft führen kann, die für ihn das ihm unzugängliche tiefste erotische Erlebnis ersetzt, ergreift er mit einer inneren Erregung, die manchmal fast den Eindruck der Naivität macht. Dann folgt bald, meist auf beiden Seiten, die Enttäuschung; und die angebahnte Freundschaft erkaltet. Beziehung folgt auf Beziehung, mit Männern und Frauen, mit bedeutenden und unbedeutenden, mit berühmten und unberühmten, mit anspruchsvollen und rührend anspruchslosen, mit naiven und schlauen, meistens nur auf Tage, Wochen, Monate und ohne eine Spur zu hinterlassen, so dass nicht ganz ohne Recht jemand, der das Jahr für Jahr mit ansah, von ihm halb bedauernd, halb spöttisch sagen konnte, er sei „nur ein Don Juan der Freundschaft“. In einem Falle, der Freundschaft mit Harden, ist die Enttäuschung beim andern Teile zum unversöhnlichen Hass bis über den Tod hinaus geworden, in vielen anderen zu einer etwas geringschätzigen Gleichgültigkeit; einige haben sich mit dem abgefunden, was er geben konnte, und seiner Hilfsbereitschaft, seinem Zartgefühl trotz mancher Enttäuschungen eine dauernde Zuneigung entgegengebracht; im ganzen aber hat ihm dieses so eigenartig gehemmte und gestörte Gefühlsleben mehr Feinde als Freunde gemacht und einen Kern von Missvergnügten geschaffen, von dem ausstrahlend Hass gegen ihn in weite Schichten hinausgetragen wurde.
Diese sozusagen halbseitige Lähmung seines Gefühlslebens durch die Vielseitigkeit seiner Natur erklärt auch seine Einstellung zur Kunst. Er hat ein „Grundgesetz der Ästhetik“ formuliert, und zwar mit den Worten: „ Ästhetischer Genuss entsteht, wenn eine verborgene Gesetzmäßigkeit empfunden wird .“ (Ges. Schr., Bd. 4, S. 49.) Diese Formel setzt eine Hemmung des Gefühlslebens als selbstverständlich schon voraus; denn Gesetze erkennt man durch den Verstand. Wem die Ahnung einer verborgenen Gesetzmäßigkeit als letzte Wirkung eines Kunstwerkes genügt, nicht bloß als Vorstufe zu seiner Inbesitznahme durch alle Seelenkräfte, der bleibt an der Schwelle stehen; – wie in der Erotik derjenige, welcher die Liebe nur als Einkleidung der Fortpflanzung empfindet, und nicht als eine alle Kräfte der Seele in sich einsaugende und überwältigende, in jedem Falle wieder neue und einzigartige Erschütterung zu Zweien. Denn wie die Liebe ist die Kunst in jedem Falle, wo ein Künstler und ein Liebhaber durch das Werk miteinander eins werden, eine solche Erschütterung zu zweien, in der auch beim Liebhaber nicht die bewusste oder unbewusste Tätigkeit seines Verstandes, sondern die Ergriffenheit seiner ganzen Seele durch das Kunstwerk das Wesentliche ist; und diese tiefe Erschütterung entstammt in der Kunst, ebenso wie in der Liebe, nicht dem Geist, sondern der Sinnlichkeit, die allein von ihren primitivsten bis zu ihren verfeinertsten Formen die ganze Seele restlos durchglühen kann. Naturen, denen die Tiefe des erotischen Erlebnisses aus inneren, nicht bloß äußeren Gründen verschlossen ist, sind daher selten Liebhaber großer Kunst. Und auch Rathenau war trotz unzweifelhafter Begabung für Malerei und Architektur – seine Bleistiftskizzen sind nicht die eines Dilettanten – seine Wiederherstellung des Schlösschens Freienwalde und sein Grunewaldhaus, das er selbst entwarf, zeigen einen feinen, wenn auch kühlen Geschmack – auch Rathenau war als Kunstliebhaber durch seine Anlage gehemmt. Er liebte Gilly, Schadow, Schinkel, die anmutige, etwas provinziale, wie zu zarten Eisblumen erfrorene Antike des preußischen Klassizismus, die vom pathetischen Empire sich so rein abhebt. Er hatte Freude an hübschen, übersichtlichen, sauberen Kunstwerken, die nach einem historisch erprobten Stil und leicht durchschaubaren Regeln hergestellt waren. Darüber hinaus versagte sein Kunstgefühl. An seine Freundin schreibt er: „So sehr ich das Gewaltsame in der Kunst oder vielmehr das Gewaltsame, durch Kunst gebändigt, dankbar hinnehme: Gewaltsame, aufgeregte, steile Kunst ist mir nicht gemäß.“ Van Gogh war ihm ein Ärgernis. Unter den Werken, die er angekauft hat, ist nicht ein einziges, das großes künstlerisches Format hat.
Seine einzige von Leidenschaft gefärbte Beziehung ist vor der Erfüllung wie die anderen im Dornengestrüpp innerer Hemmungen steckengeblieben. Einige Briefe, die sie beleuchten, sollen hier und später folgen. Sie sind wie an eine Idealgestalt gerichtet, die ihn blenden, entflammen, beglücken, bis zur Selbstentlarvung treiben konnte, wenn er sich in ihr spiegelte –, aber für ihn vielleicht doch hauptsächlich Spiegel blieb, vor ihm immer wie Helena vor Faust ganz dicht und doch unermesslich fern zu schweben scheint.
Die Reihenfolge der Briefe ist nicht mehr festzustellen: die meisten sind undatiert; die hier folgenden stammen aber aus der Zeit von 1906 bis 1911.
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„Ihr schöner, ernster Brief bewegt mich und begleitet mich seit gestern.
In Schreiberhau, auf dem Weg nach Agnetendorf, habe ich in vollkommener Wahrheit Ihnen gesagt, was mich den Menschen problematisch macht, und was selbst die, die mich am meisten lieben, zwingt, mich zu fürchten und zu hassen. Das erste ist, dass ich keinem Menschen ganz gehören kann. Ich bin im Besitz von Mächten, die, gleichviel ob sie mich zum Guten oder zum Bösen führen, ob sie mich im Spiel oder Ernst beherrschen, mein Leben bestimmen. Es kommt mir so vor, als ob ich nichts aus mir heraus willkürlich tun kann, als ob ich geführt werde, sanft, wenn ich mich füge, rau, wenn ich widerstehe.
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