Diese Schilderung zeigt, was nach Walther Rathenau höher als der analytische Verstand steht, wirksamer als dieser Menschen und Dinge unterwirft: der Blick fürs Wesentliche , das Bildmäßige, Visionäre des Denkens und Erkennens , kurz, ein Eindringen in die Welt nach der Art des Künstlers . Der Maler beweist nicht die Richtigkeit seines Bildes, er überzeugt durch dessen bloßen Anblick oder überhaupt nicht. Der Dramatiker bietet keine wissenschaftliche Psychoanalyse des Charakters seines Helden; er stellt ihn auf die Bühne und überzeugt die Zuschauer durch die Logik seiner Worte und Handlungen. Die Kunst kennt keine Beweise im Sinne des Verstandes, wohl aber Visionen, die oft wahrer sind als die sogenannten Wahrheiten der gleichzeitigen Wissenschaft. Visionäres Eindringen in die Wirklichkeit glaubte Rathenau als die Überlegenheit seines Vaters zu erkennen. Und es gefiel ihm, daraus auf die Minderwertigkeit des Verstandes zu schließen. „Aller Verstand“, sagt er in seinen „Ungeschriebenen Schriften“, „muss sich zuletzt im Unwesentlich-Wirklichen verlieren; die träumende Phantasie allein findet den Aufweg zum Wesentlich-Wahren. Die heutige materiell-unternehmende Welt kann nur bestehen, wenn sie, von ihrer krassen Wertung des analytischen Geistes abkehrend, sich dem Idealen beugt. Nur indem er sich selbst opfert, kann der Verstand sich erhalten.“ (Ges. Schriften, Bd. 4, S. 210.)
Um diese Zeit kam der Nachlass Nietzsches heraus. Rathenau, der alles las, hat wahrscheinlich auch diesen gelesen. Dort steht ein Fragment über „ Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ , das Intuition und Verstand ähnlich gegeneinander abschätzt wie Rathenau: „Es gibt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch nebeneinander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraktion; der letztere ebenso unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist. Beide begehren über das Leben zu herrschen: dieser, indem er durch Vorsorge, Klugheit, Regelmäßigkeit den hauptsächlichsten Nöten zu begegnen weiß, jener, indem er als ein „überfroher Held“ jene Nöte nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real nimmt. Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland, seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt als sein Widerspiel, kann sich günstigenfalls eine Kultur gestalten und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen: Jene Verstellung, jenes Verleugnen der Bedürftigkeit, jener Glanz der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung begleitet alle Äußerungen eines solchen Lebens. Weder das Haus, noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der tönerne Krug verraten, dass die Notdurft sie erfand: Es scheint so, als ob in ihnen allen ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte. Während der von Begriffen und Abstraktionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, außer der Abwehr des Übels, eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.“ (Nietzsches Werke, Bd. X, S. 206f.)
Aber die Abkehr vom Intellekt, die Bevorzugung der Intuition als einer tiefer eindringenden und schöpferischen Form der Erkenntnis lag überhaupt um 1900 sozusagen in der Luft. Die Beredsamkeit des französischen Philosophen Bergson umgab gerade damals die Wertschätzung der Intuition mit einem so verführerischen, sozusagen nach dem Scheiterhaufen riechenden Zauber, dass seine Werke eine Zeitlang, in jener von Proust beschriebenen Zeit, neben die seltensten und neuesten Kostbarkeiten, altpersische Fayencen, Maillol-Figürchen, Han-Terrakotten, auf die vorgeschrittensten Boudoirtische von Paris gehörten. Auch ist die Erkenntnis, dass das zweckfreie intuitive Schauen tiefer eindringt als der am Zweck gebundene analytische Verstand selbstverständlich uralt. Der erste Spruch des ältesten Philosophen, Laotse, lautet:
„Klar sieht, wer von ferne sieht,
und nebelhaft, wer Anteil nimmt.“
und sein zweiter:
„Der Vollendete lebt ohne Zweck,
lenkt ohne Wort,
handelt ohne Antrieb,
schafft ohne Gegenstand,
erdenkt ohne Ziel,
wirkt ohne wirkend zu sein.“
Doch für Walther Rathenau wurde die Überlegenheit der Intuition eine ganz persönliche Erfahrung durch das Schaffen seines Vaters, an dessen Beispiel ihm der Unterschied verwaltender von schöpferischer Tätigkeit und die Rolle der Intuition bei dieser täglich, fast stündlich verdeutlicht wurde. Daher erschienen ihm nicht nur theoretisch, sondern auf Grund lebendigsten Erlebens neue Wertmaßstäbe, die er 1907 in seinen „Ungeschriebenen Schriften“ katalogmäßig aufzählt (Ges. Schr., Bd. 4, S. 218f.):
„Blick fürs Wesentliche,
Bewunderung,
Vertrauen,
Wohlwollen,
Phantasie,
Selbstbewusstsein,
Einfachheit,
Sinnenfreude,
Transzendenz“
und in Gegensatz setzt zu den „ Neigungen von Sklavenseelen“ , die diejenigen sind, welche er an sich selbst bekämpft:
„Freude an der Neuigkeit,
Kritiklust,
Dialektik, Skeptizismus,
Schadenfreude,
Sucht zu glänzen,
Geschwätzigkeit,
Verfeinerung,
Ästhetizismus.“
So hat er die Abkehr vom Geist vor sich gerechtfertigt und theoretisch reinen Tisch gemacht für seine späteren Konstruktionen.
Aber man würde seine Persönlichkeit missverstehen, wenn man damit den Kampf in seinem Innern als ausgefochten ansähe. Der Geist mit seinem Glanz und Elend, mit seiner Sklavenseele, bleibt, wie in unserer Zivilisation, so auch in ihm der mächtigste von allen Antrieben, gegen den die Eigenschaften, die, wie er sich ausdrückt, den „Adel der Seele ausmachen“, bestenfalls ständig rebellieren können.
* * *
Freundschaften
Rathenau war von Natur leidenschaftlich und, wie aus seiner künstlerischen Veranlagung und Sehnsucht nach Schönheit zu folgern ist, sinnlich. Aber in der ungeheuren Vielstimmigkeit seines Wesens war die Sinnlichkeit mit allen von ihr abgeleiteten Regungen nie mehr als eine von den vielen Stimmen, die gleichzeitig in ihm tönten. Vor allem nie so stark, dass sie seine mächtigsten Triebe, sein Selbstgefühl, seinen Hang zur Verschlossenheit, seinen Widerwillen gegen jede Form der Abhängigkeit, seinen wie eine Naturkraft in ihm wirkenden Verstand, zum Schweigen bringen konnte. Man findet daher in seinen Schriften und Briefen viel Sehnsucht nach Hingegebenheit, nach Freundschaft, nach Versunkenheit in der Liebe, viel zarte Einfühlung in die Regungen liebender oder verehrender Herzen, wie schon in seiner frühen Dichtung „Blanche Trocard“, aber kein Zeugnis für irgendeinen Augenblick, wo alle vielen Stimmen seines Wesens vor dem einen reinen Ton der Liebe geschwiegen hätten. Wenn das Liebesmotiv als süßes Flötensolo anheben soll, geigt irgendwo der Paganini des Verstandes wie toll weiter; und man ahnt, wie verzweifelt, wie erfolglos der Kapellmeister abklopft, um Ruhe für sein Flötensolo herzustellen. In den Briefen, deren Worte der Leidenschaft am nächsten kommen, verrät immer zum mindesten die Schrift, die stets geschäftsmäßige, gleiche, etwas floskelhafte, nie und nirgends erregte Schrift, eine Zurückhaltung, die nicht einen Augenblick den Schleier von der Seele ganz lüften will oder kann. Nie geht die Leidenschaft mit Rathenau durch. Nie besiegt die Gier der erotischen Inbesitznahme die Angst vor dem Gefangenwerden in fremdem Netz. Nie täuscht ihm die Sinnenlust die Möglichkeit des Ineinanderschmelzens zweier Seelen vor. „Ich kenne diese Sehnsucht“, schreibt er an Lore Karrenbrock, „und fühle sie Ihnen nach, und weiß doch, wie vergeblich sie ist. Vereinigung gibt es nur im Bereich der Sinne, und da ist sie flüchtige Täuschung. Die Seelen aber stürzen hintereinander her wie die bewegten Sterne und können doch ihre Bahn nicht verlassen und begegnen sich nicht.“ (Brief 645.)
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