Also auf nach Ohio, auf zu seiner ersten Kontaktadresse, auf zu seiner Briefreundin Ruby; Rubin hatte zwei Adressen, eine in Vermilion Ohio, wo wahrscheinlich ihre Eltern lebten, und eine von einem Krankenhaus in Lorain Ohio, wo Ruby wohl gerade eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. Da es mitten in der Woche war, wollte er es zunächst hier versuchen.
Diese Mal musste Rubin nicht einmal einen Bus nehmen, der ihn aus der Stadt heraus befördern sollte; bereits nach wenigen Minuten saß er in einem Auto mit einem freundlichen Amerikaner, der mit ihm noch einmal am White House vorbei fuhr; offensichtlich verband er ganz andere Gefühle mit diesem Gebäude als Rubin, was sich eindeutig an den mit einer von Stolz geschwellten Brust geäußerten Worte erkennen ließ: „Hier wohnt unser Präsident Nixon!“ Egal, Rubin war froh, endlich diese für ihn ungewohnt riesigen Städte hinter sich zu lassen.
Bis Cleveland Ohio waren es zwischen sechshundert und siebenhundert Kilometern, je nachdem, welche Strecke man befuhr, und da Rubin natürlich von den Autofahrern abhängig war, konnte er wohl kaum wählerisch sein. Aber an diesem Tag ging es nach seinem Gefühl schon recht langsam voran, da alle ihn immer nur wenige Kilometer mitnahmen. Als es am späten Nachmittag schon anfing zu dämmern, hatte er nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht und er wollte schon aufgeben, da er befürchtete, dass kein Autofahrer bereit sei, in der Dunkelheit einen Anhalter mitzunehmen, als doch noch ein etwas korpulenter Mann anhielt und ihn fragte, wo er hin wolle.
Es waren erst wenige Minuten mit den üblichen anfänglichen Fragen vergangen, als dieser sehr freundlich wirkende Mann mittleren Alters mit einem doch recht kräftigen Bauchumfang Rubin fragte:
Have you got a friend?
Yes, of course.
And have you got several friends?
Yes, I do.
I will pay for the hotel!
Erst jetzt verstand Rubin den Sinn all dieser Fragen und er bemühte sich, diesem, wie er es jetzt empfand, doch alten fetten geilen Kerl klarzumachen, dass er keinerlei Interesse daran hätte, ihm als Sexobjekt zur Verfügung zu stehen. So hätte er das auf keinen Fall gemeint und er ergänzte:
It could have been a wonderful night.
Maybe for you
erwiderte Rubin, woraufhin der feiste Kerl anhielt und als Rubin ausstieg, wiederholte er noch einmal
It could have been a wonderful night.
Da stand Rubin nun am Rande einer Auffahrt zu einem Highway; inzwischen war es dunkel geworden und die Chance, noch bis in den nächsten Ort mitgenommen zu werden, schien gegen Null zu sinken. Etwa zweihundert Meter von der Auffahrt entfernt sah Rubin ein kleines Wäldchen und er beschloss, in diesem Wald zu übernachten. Da er einen Schlafsack dabei hatte, es nicht regnete und die Temperatur doch recht angenehm war, schien ihm das in dieser Situation die beste Möglichkeit zu sein. Also machte Rubin sich auf, ging hinüber in den Wald, packte seinen Schlafsack aus und versuchte zu schlafen. Da er verständlicherweise noch nicht zu Abend gegessen hatte, knurrte sein Magen; doch es waren wohl eher die Geräusche um ihn herum, die ihn wach hielten. Entscheidend war nicht das Rauschen, das durch die vorbeifahrenden Autos auf dem Highway verursacht wurde, sondern vielmehr merkwürdige Geräusche, die ganz in seiner Nähe waren.
Handelte es sich um Tiere, die um ihn herumschlichen, waren sie gefährlich, handelte es sich um Schlangen, Rubin hatte gehört, dass es in Amerika giftige Schlangen geben soll oder war es das gefährlichste Raubtier der Welt, ein Mensch, der ihn ausrauben oder gar töten wollte. All diese Gedanken rasten durch Rubins Hirn und hielten ihn lange wach, doch schließlich schlief er dann doch ein und wachte am nächsten Morgen auch wieder auf, immer noch mit dem Kopf auf seinen Schultern.
Es war zwar noch sehr früh am Morgen, da jedoch in einem Wald die Möglichkeiten für die morgendliche Toilette und ein Frühstück sehr begrenzt sind, packte Rubin seine Sachen zusammen und ging zu der Auffahrt des Highways zurück. Am Rande der Fahrbahn stand ein Auto, und als Rubin sich diesem Auto näherte wurde die Beifahrertür geöffnet und eine etwa sechzig Jahre alte adrette Frau forderte ihn auf einzusteigen. Dies kam Rubin zwar merkwürdig vor, doch damals war er noch von einem grundsätzlichen Vertrauen zu den Menschen geprägt, trotz der Erfahrung vom Vorabend.
In diesem Fall war das Vertrauen nicht nur berechtigt, sondern es stellte sich heraus, dass es sich hier um einen außerordentlichen Glücksfall handelte. Die Dame hatte gesehen, wie Rubin aus dem Wald kam und sich gedacht, dass er dort wohl übernachtet habe; damit nicht genug, fuhr sie die nächste Raststätte an, da sie richtigerweise vermutete, dass Rubin noch nicht gefrühstückt habe. Während des Frühstücks entwickelte sich eine lebhafte und angenehme Unterhaltung, bei der sich herausstellte, dass die Dame nur zu ihrem Vergnügen „durch die Gegend“ fuhr, sie fuhr sozusagen spazieren, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Als Rubin ihr sagte, dass er nach Lorain Ohio wollte, teilte sie ihm mit, dass sie ihn dort hinbringen würde und zwar genau bis vor die Tür des Mercy Health Lorain Hospitals. Rubin konnte sein Glück kaum fassen; nach den vielen Kurztrips des Vortages erhielt er nun ganz offensichtlich eine lange kostenfreie „Taxifahrt“ mit einer charmanten Dame direkt bis an sein Ziel, außerdem konnte er sich mit ihr sehr angeregt unterhalten, ohne dass es zu diesen unangenehmen Pausen kam, in denen man sich angestrengt fragte, was kann ich denn jetzt mal sagen.
Gegen Mittag erreichten sie das Ziel, das Mercy Health Lorain Hospital; ein paar überschwängliche Dankesworte für diesen angenehmen Vormittag, Rubin stieg aus und die Dame fuhr davon. Da stand er nun vor seiner ersten Kontaktadresse, ein wenig aufgeregt war er schon; nach vielen Jahren der Brieffreundschaft sollte er nun dieses Mädchen, diese inzwischen junge Frau, diese Ruby kennen lernen. Er ging zur Rezeption des Krankenhauses, und sagte, dass er gerne die Krankenschwesterschülerin Ruby sprechen möchte. Offensichtlich war sie dort namentlich bekannt, denn die Dame an der Rezeption griff sofort zum Telefon und bevor sie eine Nummer wählte, bat sie Rubin, im gegenüberliegenden Wartezimmer Platz zu nehmen.
Es dauerte nur wenige Minuten und Ruby stand vor ihm, einen Kopf kleiner als er selbst, dunkelbraune Haare, leicht übergewichtig und vor allem, was Rubin sofort auffiel, waren alle ihre Fingernägel bis auf die Haut abgenagt. Sie hatte ein strahlendes Gesicht und begrüßte Rubin überschwänglich. Offensichtlich freute sie sich tatsächlich ihren langjährigen Brieffreund aus Germany endlich persönlich kennen zu lernen. Sie wechselten ein paar Worte, wie war dein Flug, seit wann bist du in Amerika, wie bist du hier her gekommen. Dann teilte sie ihm mit, dass sie im Moment leider keine Zeit habe, dass sie ihre Mutter anrufen würde, damit sie ihn abholen könne und am Wochenende käme sie dann nach Hause und sie könnten sich länger unterhalten.
Ruby verabschiedete sich und Rubin blieb alleine in dem Wartezimmer zurück. Es dauerte etwa eine halbe Stunde und eine gut aussehende Frau mittleren Alters erschien im Wartezimmer.
Hi Rubin, my name is Emily, I’m Ruby’s mother. Let’s go to my car, so we can go to our house in Vermilion.
Auf dem Weg zum Auto, es handelte sich um einen Chrysler aus der dreihunderter Baureihe, stellte Rubin fest, dass Emily mit ihrem rechten Bein hinkte, da es entweder etwas zu kurz geraten oder falsch eingehängt war. Zum ersten Mal fuhr Rubin also in einem dieser überdimensionierten amerikanischen Schlachtschiffe, bei denen der Benzinverbrauch keine Rolle spielte, da das Benzin in der damaligen Zeit in den USA spottbillig war.
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