Wird aber die Musik nur zur Belustigung gebraucht oder um sich sehen zu lassen vor den Menschen, so ist sie sündlich und schädlich. Und doch findet man gerade dieses so häufig, ja fast die ganze moderne Musik trägt die Spuren davon. Eine andre recht traurige Erscheinung ist, dass viele neuere Komponisten sich bemühen, dunkel zu schreiben. Aber gerade solche künstliche Perioden, die vielleicht den Kenner entzücken, lassen das gesunde Menschenohr kalt. Vorzüglich diese sogenannte Zukunftsmusik eines Liszt, Berlioz, [sie] sucht etwas darin, so eigentümliche Stellen wie nur möglich zu zeigen BAW1.27[und doch blieb bei dem, was Ns Unwillen hier erregte, aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet der damals „Schlimmste von allen“, Richard Wagner, unerwähnt! - Dies dank der Vorarbeit seitens Gustav Krug, der damals Wagner gegenüber durchaus positiv eingestellt war, was N bereits ausreichend beeinflusst hatte? Und war es nicht N später selbst, der sich durch das Vorzeigen „möglichst eigentümlicher Stellen“, das heißt „von zuvor noch nicht Vernommenen“ auszuzeichnen versuchte?] -
Auch gewährt die Musik eine angenehme Unterhaltung und bewahrt jeden, der sich dafür interessiert, vor Langeweile. [Und plötzlich bricht, totalitär, bösartig, einseitig, bestimmend und die Kontrolle verlierend hervor:] Man muss alle Menschen, die sie [die Musik] verachten als geistlose, den Tieren ähnliche Geschöpfe betrachten [muss man?]. Immer sei diese herrliche Gabe Gottes meine Begleiterin auf meinem Lebensweg [gleichsam als Schutz vor der Tierheit in ihm selber? Damit Er nicht auf der Stufe „der Anderen“ zu finden sei?] und ich kann mich glücklich preisen, sie [die Musik] lieb gewonnen zu haben. Ewig Dank sei Gott von uns gesungen, der diesen schönen Genuss uns darbietet! - - BAW1.27[Ohne auch nur einen Gedanken daran, dass Andere gegebenenfalls ganz anderen Genüssen frönen mögen!]
In der dritten Periode meiner Gedichte versuchte ich die erste und die zweite zu verbinden, d.h. Lieblichkeit mit Kraft vereinen. In wie weit mir dies gelungen ist, weiß ich selbst noch nicht zu bestimmen. Diese Periode begann mit dem 2ten Februar 1858 [war also noch nicht lange her!]. An diesem Tage nämlich ist meiner lieben Mutter Geburtstag. Gewöhnlich pflegte ich ihr eine kleine Sammlung Gedichte zu überreichen. Von da an nahm ich mir vor, mich etwas mehr in der Poesie zu üben und wenn es geht womöglich jeden Abend ein Gedicht zu machen. Dieses führte ich ein paar Wochen hindurch aus und jedes Mal gewährte es mir große Freude, wenn ich wieder ein neues Geistesprodukt vor mir liegen sah ….. Ein gedankenleeres Gedicht, das mit Phrasen und Bildern überdeckt ist, gleicht einem rotwangigen Apfel, der im Innern den Wurm hat ….. eine Nachlässigkeit im Stil verzeiht man eher, als eine verwirrte Idee ….. Gleicht hierin die Poesie nicht der Modernen Musik? ….. Man wird in den eigentümlichsten Bildern reden; man wird wirre Gedanken mit dunklen, aber erhaben klingenden Beweisen belegen, man wird kurzum Werke im Stil Faust (zweiten Teil) schreiben, nur dass eben die Gedanken dieses Stückes fehlen BAW1.27f[genau dies wäre auf Ns „Werk“ zu beziehen, denn in diesem hat N seine hier dargelegten Jugendgedanken nicht befolgt. Unverkennbar ist seine Sehnsucht nach Regeln, nach Verlässlichkeit, nach der eindeutigen Scheidung von „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“, weil seine „Gefühlsblindheit“ ihm keine Möglichkeit gab, dies frei zwischen den superlativistisch extremen Polen liegend zu erkennen und darzustellen. So machte er lieber sich selbst zum Maß aller Dinge, da er dieses Maß bei „den anderen“ nicht zu finden vermochte.
In Ns Aufzeichnungen folgt eine Liste von 46 Gedicht-Titeln und -Anfängen: Dies sind nicht die einzigen. Ich habe sie bloß in der Auswahl hingeschrieben, aber auch von den älteren mehrere, deren ich mich wohl noch erinnere, sie jedoch nicht mehr besitze. Auch habe ich zwei kleine Schauspiele im Verein mit Wilhelm [Pinder] geschrieben. Das eine heißt: Die Götter vom Olymp. Wir haben es einstmals aufgeführt, aber obgleich es nicht recht gelang hat es uns doch großen Spaß bereitet. Die silbernen und goldnen Panzer, Schilde und Helme, ebenso die prächtigen von überall her geholten Anzüge der Göttinnen spielten eine große Rolle. Das andere Stück hieß Orkadal, ein Trauerspiel oder vielmehr eine Ritter und Geistergeschichte, so ganz aus Banketten, Gefechten, Morden, Gespenstern und Wunderzeichen zusammengefügt ….. ich hatte [dazu] eine rasende, vierhändige Ouvertüre komponiert, da verfiel allmählich der ganze Plan ….. Manche solche Entschlüsse, so einen sogar zu einer Novelle: Tod und Verderben, fasste ich, als ich im letzten Semester vom Quarta wegen Kopfschmerzen nicht die Schule besuchen durfte. Ich ging da alle Vormittage über den Spechzart [spazieren über eine dichte belaubte Allee, in die Weinberge] und ersann dabei mancherlei, das aber selten zur Ausführung kam. BAW1.30
In jener Zeit, im Alter von 14 begann N schon - durch seine Kopfschmerzanfälle dazu „verdammt“! - herumspazierenderweise sich eine „Parallelwelt“ zu zimmern, mit der für ihn leichter zurechtzukommen war, als mit der derjenigen, die seinen Gefühlen für „die Anderen“ so schwer erreichbar war: - eine Verhaltensweise, die für sein späteres „Philosophen-Leben“ eine seltsam „beibehaltene“, lang antrainierte Einübung war: Sich mancherlei, was so ganz und gar anders war, als es im täglichen Leben Gültigkeit hatte, als sein „ Eigenstes “ zu ersinnen ! In der Schule wurde er „nach einem ziemlich günstigen Examen nach Tertia versetzt“ BAW1.31und an die gut 30 Seiten der Erstbetrachtung seines Lebens hängte er dann noch einen eine Druckseite langen „Rückblick“ an. In diesem hört man deutlich den „kleinen Pastor“ reden; von sich natürlich, wie zuvor, obgleich es eigentlich nichts weiter zu berichten gab, - aber er vermochte nicht aufzuhören, wie es später von „Werk“ zu „Werk“ bei ihm üblich werden sollte: Er „ füllte “ aber dieses Nichts über sich selbst mit Worten, Behauptungen und nicht wirklich eigenen Erfahrungen und Ansichten über die Welt:
Ich habe nun schon so manches erfahren, freudiges und trauriges, erheiterndes und Betrübendes [nur dieses großgeschrieben!], aber in allem hat mich Gott sicher geleitet wie ein Vater sein schwaches Kindlein [weil es nicht anders hingenommen werden konnte, als es eben kam?] Viel Schmerzliches hat er mir schon auferlegt, aber in allem erkenne ich mit Ehrfurcht seine hehre Macht, die alles herrlich hinausführt. Ich habe es fest in mir beschlossen, mich seinem Dienste auf immer zu widmen [die Tatsache, dass daraus nichts wurde, ist eigentlich Beweis genug, dass alles das Vorerzählte Leere Formeln waren!]. Gebe der liebe Herr mir Kraft und Stärke zu meinem Vorhaben und behüte mich auf meinem Lebenswege. Kindlich vertraue ich auf seine Gnade: Er wird uns insgesamt bewahren, auf dass kein Unfall uns betrübe. Aber sein heiliger Wille geschehe! Alles, was er gibt, will ich freudig hinnehmen, Glück oder Unglück, Armut oder Reichtum und kühn selbst dem Tod ins Auge schauen, der uns alle einstmals vereinen wird zu ewiger Freude und Seligkeit. Ja lieber Herr, lass dein Antlitz über uns leuchten ewiglich! Amen!!
Das war, weiß Gott, nicht sonderlich originell und ja auch nicht er selber! Es war die seit je ihm übergestülpte Kutte seiner Herkunft, seines Zu-Hause, - aber seinem Wesen zuwider und deshalb nicht zu erfüllen. Um die Aufzeichnungen zu „rechtfertigen“, dramatisierte er, wo es nichts zu dramatisieren gab: Es ging um das Leben eines Jungen, der sich in eine Umgebung ehrgeiziger Anforderungen gestellt sah und sich in den Betrachtungen seiner selbst die nötige Rechtfertigung gab, „die Sache im Griff zu haben“. Diese Selbstbetrachtung stand um ihrer selbst willen im Vordergrund und setzte sich fort mit den Sätzen:
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