Gut 2 Druckseiten lang spielte er dann den Naumburger Stadtführer und berichtete, am Ende davon, von seinem Erlebnis des Händelschen „Halleluja“ aus dessen Oratorium „Der Messias“ und seiner ihm im Rückblick erscheinenden Stellung zur Musik und zu seinen Kompositionen. Danach gab er mit absoluter Selbstverständlichkeit sein Qualitätsurteil über den damaligen Naumburger Musikdirektor ab: Übrigens lobend, wie zuvor gegenüber Gott. Dann folgten Ausführungen über das Domgymnasium, also über die Zeit nach dem Herbst 1854. Dort war, wie er fand, der Religionsunterricht „wahrhaft erbärmlich“ BAW1.19, was noch zwei Jahre lang dauern sollte. Dann berichtete er über familiäre Todesfälle: Eine der beiden Tanten starb und einige Monate darauf auch die Großmama N und dann folgte seine Versetzung nach Quarta, also ab Herbst 1855.
Weihnachtsfeste waren regelmäßig die Höhepunkte: „der seligste Abend des Jahres. Mit wahrhaft überseliger Freude harrte ich schon lange darauf, aber die letzten Tage konnte ich kaum mehr erwarten, Minute für Minute verging und so lang kamen mir die Tage wie im ganzen Jahre nicht vor. Eigentümlich war, dass, wenn ich einmal recht Sehnsucht hatte, mir alsbald [als Ersatzhandlung] einen Weihnachts-[Wunsch-]Zettel schrieb und mich dadurch förmlich in den Augenblick hineinversetzte, an dem sich die Tür öffnete und der leuchtende Christbaum uns entgegenstrahlte.
In einer kleinen Festschrift schrieb ich hierüber [und nun zitierte er sich in naiver Hingabe an das Gewohnte selbst]: „Wie herrlich steht der Tannenbaum, dessen Spitze ein Engel ziert, vor uns, hindeutend auf den Stammbaum Christi, dessen Krone der Herr selbst war. Wie hell strahlt der Lichter Menge, sinnbildlich das durch die Geburt Jesu erzeugte Hellwerden unter den Menschen vorstellend. Wie verlockend lachen uns die rotwangigen Äpfel an, an die Vertreibung aus dem Paradies erinnernd [wäre das vom Logischen her ein überzeugender Grund, zu feiern?]! Und siehe! An der Wurzel des Baumes das Christkindlein in der Krippe; umgeben von Josef und Maria und den anbetenden Hirten! Wie doch jene den Blick voll inniger Zuversicht auf das Kindlein werfen! Möchten doch auch wir uns so ganz dem Herrn hingeben!“ - - -
Damit war glaubensinhaltlich der Höhepunkt schon vorüber. Ns Weihnachtsverständnis war darüber hinaus außerordentlich profan!
Wenn nicht ganz so herrlich, aber doch ähnlich ist das Geburtstagsfest. Aber was ist die Ursache, dass wir nicht so wie am Christfest von Freude durchdrungen sind? [Auch bei solchen „Fragen“ plagte N ein Abgrenzungs- und eindeutiger „Wertungsbedarf“, eine etwas totalitär abgrenzende und polarisierend festlegende „Schulgesetzliche“ Ordnung der Rangfolge, auf die Verlass sein konnte!] Erstens fehlt ganz jene hohe Bedeutung, die dies erstgenannte über alle andern Feste erhebt. Dann aber betrifft es nicht nur uns allein, sondern überhaupt die gesamte Menschheit, Arme und Reiche, Kleine und Große, Niedrige und Hohe [was Superlative ergab, denen N nicht zu widersprechen vermochte!]. Und gerade diese allgemeine Freude vermehrt unsre eigne Stimmung. Kann man sich doch mit jedem darüber besprechen, sind ja doch alle Menschen gleichsam Mitharrende. Dann beachte man auch die Lage, so dass es, so zu sagen, den Kulminationspunkt des Jahres bildet, bedenke man jene nächtliche Stunde, wie überhaupt die Seele am Abend viel erregter ist und endlich jene ganz außergewöhnliche Feierlichkeit, mit der dieses Fest geehrt wird. Das Geburtstagsfest ist mehr Familienfest, Weihnachten ist aber das Fest der gesamten Christenheit. Aber dennoch habe ich meinen Ehrentag sehr lieb. Da er mit dem Geburtstag unsers lieben Königs zusammenfällt, so werde ich des Morgens schon mit Militärmusik geweckt. Nach beendigter Bescherungszeremonie wenden wir uns zur Kirche hin. Ist die Predigt auch nicht für mich geschrieben, so ziehe ich mir doch [wie es für jeden anderen ebenso gelten soll] das Beste heraus und wende es auf mich an. BAW1.25f
Da bestand durchaus - noch? - bei N ein anerzogenes und wohl auch erlebtes Verhältnis zum Dasein „der Anderen“. Vielleicht nur im Rahmen und als Beigabe der ihn umgebenden , aber nicht wirklich geteilten Gläubigkeit, die nur in einem auf „die Anderen“ bezogenen Umfeld möglich ist. Sehr fest, in innerlicher Überzeugung, kann diese Lebenseinstellung allerdings nicht in ihm verwurzelt gewesen sein, da sie ihm irgendwann in nächster Zeit sang- und klang- und beinahe spurlos abhandenkam. Das Nähere dazu wird sich zeigen. In der Beschreibung seines Lebens und Wesens fuhr er, der Musik zugewandt fort:
Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens , durch sie nach Oben geleitet werden [da wirkte - schon? - wieder einmal? - das für N so sinngebende Motiv der Erhöhung - als eine Variante der als moralisch anzusehenden Weltverbesserung? - oder nur der Flucht aus der summarisch ungeliebten Realität? - mit. Sollten das Reste des altüberkommenen, noch mittelalterlichen Strebens nach dem Göttlichen gewesen sein? Ein Antrieb, dem drohenden, ebenso nur gedachten höllischen Gegenpol zu entkommen? In seiner Umgebung gab es herzlich wenig, was auf eine moderne, in die Zukunft weisende Art zu denken gerichtet gewesen wäre. Da war alles noch höchst pfarrlich von und in Gott gegründet, noch immer ohne über das rein Reformatorische hinausgehende Spurenelemente der längst über die Bühne gegangenen Aufklärung mit ihrem Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und eigenem, selbstverantwortlichem Denken zu spüren]. Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann [und das nannte N als Erstes, weil es ihm besonders wichtig erschien:] erheben [die Probleme der Alltäglichkeit vergessen machen], sie kann tändeln, sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften wehmütigen Tönen das roheste Gemüt zu brechen [tatsächlich?]. Aber ihre Hauptbestimmung [und wieder wegen etwas, das ihm persönlich besonders wichtig war:] dass sie unsere Gedanken auf Höheres [auf Gott oder nur das ihm Wohlgefällige?] leitet, dass sie uns erhebt, sogar erschüttert. BAW1.26
Es steckt darin ein ziemliches Potential an schwer beschreibbarer, eher realitätsferner „Weltflucht“ „nicht von dieser gewöhnlichen , allgemein zugänglichen Welt“ zu sein, dem Ns Gefühlsleben einen besonderen, eigenen Stellenwert zuzubilligen schien!]
Vorzüglich ist dies der Zweck der Kirchenmusik. Indes muss man [denn da kam N mit seinem Ausschließlichkeitsstreben in Konflikt!] bedauern, wie sich die Gattung der Musik immer mehr von ihrer Hauptbestimmung entfernt. Hierzu gehören auch die Choräle. Aber es existiert jetzt so mancher Choral, der mit seiner schleppenden Melodie so ungemein von der Stärke und Kraft der Älteren abweicht. Dann aber erheitert sich auch das Gemüt und vertreibt die trüben Gedanken. Über wen kommt nicht ein stiller, klarer Friede, wenn er die einfachen Melodien Haydns hört! Die Tonkunst redet oft in Tönen eindringlicher als die Poesie in Worten zu uns und ergreift die geheimsten Falten des Herzens. Aber alles was uns Gott schenkt, kann uns nur dadurch zum Segen gereichen, wenn wir es richtig und weise anwenden. So erhebt der Gesang unser Wesen und führet es zum Guten und Wahren. BAW1.26f
Das war noch biedermeierlich gedacht, gleichsam in Unkenntnis der damals technisch noch nicht möglichen Erweiterung des alten Spruches „wo man singt, da lass dich ruhig nieder“, - mit der später dann „modernen“ Ergänzung: Böse Menschen haben ein Grammophon“! - Es war die Beschwörung einer heilen Welt und bot beliebig gewählte Begründungen, die überzeugen sollten! In seinen Satzgefügen wird sein aufkeimendes Bemühen erkennbar, aus dem, was ihn beeindruckte, erhob, erschauern ließ oder Vergnügen machte, - daraus Weltgesetzmäßigkeiten konstruieren zu wollen: Überall klingt durch, wie sehr N dazu neigte, was er selber empfand und „dachte“ für einzig richtig - ganz allgemein! - als das Richtige , das Wahre , das Gute und das Vorbildliche überhaupt zu halten. Gleich darauf folgte noch der Prediger, auf Ordnung, Sitte und Moral bedacht:
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