Gleich am nächsten Tag, am 11. Juni 1862 schrieb er der Tante Rosalie:
Liebe Tante! [Er sprach sie nicht mit Namen an, achtete aber - was er sonst selten tat! - darauf, Du, Dir und Dich in dem Brief an sie groß zu schreiben.] Ich ergreife die Gelegenheit, um Dir in einigen Worten meinen herzlichen Dank für Deine so freundliche und wirklich splendide [freigebige, großzügige, prächtige] Bewirtung auszusprechen. Ich habe mich wohl bei Dir gefühlt und so angenehme Stunden verlebt, dass ich jetzt noch sehr gern an den zweiten Pfingsttag zurückdenke, so ungünstig doch das Wetter war. In gleicher Weise war die Aufnahme bei Pinders eine im hohen Grade freundliche und liebevolle. Donnerstag wirst Du von dem Photographen die Visitenkarten bekommen; Du kannst es auch mit ihm gleich über den Preis abmachen. Er weiß, dass ich ein Pförtner bin und wie Mamma mir schreibt, zahlen Gymnasiasten bloß einen Taler. Du wählst Dir also die beste aus von den Visitenkarten und behältst außerdem noch zwei zurück. Die übrigen 3 holt Wilhelm von Dir ab, um sie mir Sonntag nach Almrich zu bringen. Im Logis [im Haus am Weingarten 18] fand ich alles ganz in Ordnung; Malchen [im brieflichen Namensregister ohne Erläuterung; wohl die derzeitige Dienstmagd der Mutter] zündete noch Licht an und besorgte Waschwasser. Wie ich den Tag verlebt habe, ganz angenehm, wie sich erwarten ließ, kannst Du aus meinem Brief an die Mamma ersehen ….. (316)
Für den 17. bis zum 24. Juni befand N sich laut Pfortaer Krankenbuch wieder einmal für immerhin 8 Tage, von einem Dienstag an, auf der „Krankelei“, ohne Hinweise darauf in Briefen. Diesmal nicht wegen angegebener Kopfschmerzen, sondern wegen „Katarrh“. J1.129Der Katarrh, eine Schleimhautentzündung der Atmungsorgane und der Kopfschmerz hingen also nicht unmittelbar zusammen. Es gab das Eine auch ohne das Andere.
Am 24. Juni 1862 schrieb N an die Mutter, die noch bei ihrem Bruder Edmund in Gorenzen weilte, der dort Pfarrer war:
Liebe Mamma. Ich danke dir recht sehr für deinen Brief, der mich in große Freude versetzte. Die schöne [Ferien-]Zeit rückt nun immer näher heran [einige Pläne, wie Rügen, oder eine Harzreise mit Pinders hatten sich zerschlagen] Ich kann dir als bestimmt nur schreiben, dass ich Freitag [den 27. Juni] von Naumburg abreisen werden. Wenn der liebe Onkel mich in Eisleben [an der Gorenzen damals nächstgelegenen Bahnstation in gut 15 km Luftlinienentfernung] abholen will, wird es mich sehr freuen. Wenn das Wetter aber nicht anders wird als es jetzt ist, so fahre ich nach Mannsfeld [das in knapp 8 km Luftlinienentfernung zu Gorenzen liegt]. Die ersten Ferientage werde ich also in Naumburg verleben, da ich da doch mehreres zu tun habe und auch mit meinen Freunden ein wenig verkehren möchte. Ich freue mich sehr auf die Harzausflüge, von denen du schreibst. Wie hübsch, wenn wir mit meinen Freunden zusammentreffen könnten! (322)
Dazu kam es nicht. N blieb die Ferien über in Gorenzen hängen.
In einem an N ungewohnten, eigenartig krampfhaft aufgeräumt wirkenden, dabei aber angeberisch lässig-coolen Ton zu dem sich N wohl, wie dann 1865, als Antwort auf einen entsprechenden, in diesem Fall nicht überlieferten Brief herausgefordert fühlte, schrieb er am 28. Juli 1862 an einen nirgends verzeichneten Raimund Granier, einen wohl nicht sonderlich vertrauten Mitschüler in Pforta, der lt. Janz später Arzt wurde und an den zu Beginn des zweiten Studienjahres noch ein zweiter Brief in diesem Stil innerer Aufgeräumtheit, verbunden mit einem nicht zu übersehenden Imponiergehabe, erhalten blieb. Von diesem Raimund Granier an N ist ein Brief aus dem Jahr 1865 überliefert. Davon später. Vorerst schrieb N diesen völlig aus dem Rahmen fallenden Brief. Alle darin mehrfach aufeinanderfolgenden Punkte sind von ihm:
Sehen Sie einmal! Dank Ihrer ausgezeichneten Gedächtniskraft - nach ein paar Wochen der Trennung total vergessen, ersäuft im Meer neuer, anziehender Persönlichkeiten! Ich habe die Ehre, Ihnen brieflich zu melden, dass ich noch lebe. Sollten Sie sich an der Zugluft meines Briefes erkälten - bedaure sehr, aber Sie haben in Ihrem tiefinnerlichen Wesen Hitze genug, um diese schwarzen Zeilen weiß zu brennen. Sie würden sich mir übrigens sehr verbinden, wenn Sie nicht auf den alten, abgelebten Gäulen von Entschuldigungen vor mir Parade ritten, damit Sie ja nicht in ihrer Verlegenheit aus dem Sattel in den Schmutz fallen und mir letzteren ins Gesicht spritzen. Der Brief wäre eigentlich lang genug, um Ihnen die Langeweile der Ferien vorzustellen, die ich ohne Sie …. mein Gott, an welche Sie denken Sie denn? Ich meine eben Sie …. und ohne L. zugebracht habe; er wäre auch kurz genug, um Ihnen in Kürze gemeldet zu haben, dass Sie ein famoser, liebenswürdiger, gutmütiger, intelligenter junger Mann sind, der leider den Kopf verloren hat, wahrscheinlich im weiten Sack seines Herzens.
Das waren lauter um N selbst kreisende Bon-Mot-Effekte, mit denen er evtl. auf Inhalte eines Briefes von Raimund Granier eingegangen war; - oder auch nicht! Ab hier jedenfalls hatte er diesen Ton satt und es folgt eine Reihe relativ harmlos flacher Routinefragen, die es erlaubten, endlich vollumfänglich auf sich selbst zu sprechen zu kommen:
Fragen Sie mich, wohin ich gereist bin? Nach Gorenzen, mein Lieber, um dort Ihrer früh, Mittags und Abends in allen Gebeten zu gedenken. Fragen Sie, womit ich mich beschäftigt habe - mit Widerlegungen des Materialismus, [„eine philosophische Position, die alle Vorgänge und Phänomene der Welt [die Erscheinungen, alles, was sich den Sinnen zeigt] auf Materie und deren Gesetzmäßigkeiten und Verhältnisse zurückführt. Auf die Frage „Was ist ?“ antwortet der Materialismus: Nur Materie. Der Materialismus geht also davon aus, dass auch Gedanken und Ideen [also auch Informationen!?] Erscheinungsformen der Materie sind bzw. auf solche zurückgeführt werden können. Er erklärt dem Menschen die ihn umgebende Welt und die in ihr ablaufenden Prozesse ohne geistige bzw. immaterielle Elemente, wie beispielsweise [das Leben und] Gott, dessen Existenz sich mit der Methodik der Naturwissenschaft, insbesondere dem Experiment, nicht überprüfen ….. lässt.“ Wikip.24.11.09- Und dies wollte N „widerlegen“! - Ohne zu erklären womit, das heißt aufgrund welcher eigenen Erkenntnisse! - Das Widerlegen aber gehörte zu Ns „Rolle“ des die Welt zurechtrückenden „Denkers“, der in allem die besserwisserische „höchste Instanz“ darzustellen hatte! Der dazumal knapp 18-jährige N hatte also den einseitigen, bornierten Materialismus zu widerlegen:] während Sie an ihn [den Materialismus] zu glauben scheinen - Glauben Sie doch an ein Zusammenprallen der Geister, weshalb sie schwarze Herzensergüsse in Tintensaft nicht lieben, - außerdem mit dem Rousseau‘schen Emil [ein Bildungsroman „Emil oder Über die Erziehung“ des eben erwähnten Jean-Jacques Rousseau, 1712-1788, ein Genfer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher, Komponist und - einer der wichtigsten geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution. In dem zwischen 1759-1761 entstandenen Roman trat er dafür ein, Kinder und Jugendliche sich selbst und der Natur zu überlassen und von zivilisatorischen Einflüssen fernzuhalten. Zu Anwandlungen dieser Art neigte auch N in seinen idealistischen Erziehungsvorstellungen, gemäß seiner in „Fatum und Geschichte“ gerade erklärten Emerson-Überzeugung, wie sehr er sich da „von unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurteile, durch die Eindrücke unsrer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unseres Geistes gehemmt und in der Bildung unsres Temperaments bestimmt“ fühlte und sah, ohne die daraus auch erwachsende Förderung zu erkennen!], von dem Sie etwas Natürlichkeit und Bildung lernen könnten, auch, dass man seine Versprechen halten müsse [ein wohl persönlicher Bezug]. Fragen Sie was ich komponiert habe? Ein Lied ohne Worte [in Anlehnung an Mendelssohn-Bartholdys 1832 entstandenen „Lieder ohne Worte“] auf Ihre Brief- und Gedankenlosigkeit - denn Worte blieben mir vor Langeweile im Halse stecken. Was ich gedichtet habe? Lieder, lauter Lieder [was direkt einmal der Wahrheit entsprach. N verschenkte seine Kompositionen jener Zeit in alle Richtungen, - vor allem an die Schwester, mit genauen erzieherischen Hinweisen, wie sie zu singen seien!] - aber nicht auf Sie, so hoch habe ich mich nicht verstiegen. Der Plan zu meiner widerwärtigen Novelle [von der N Granier also unmittelbar Kenntnis gegeben haben musste!] - ach Gott, Sie haben’s auch vergessen! Gleichviel! - habe ich, als ich das erste Kapitel geschrieben hatte, vor Ekel über Bord geworfen. Ich sende Ihnen des Monstrum-manuskript zum Gebrauch …… [wie in diesem angedeutet, „zum wischen“] nun, wie Sie wollen. Als ich’s geschrieben, schlug ich eine diabolische Lache auf [in der Art seines späteren „con canibalido“, dazu später, 1872, mehr] - Sie werden selbst schwerlich nach der Fortsetzung Appetit haben.
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