Da Ns Produktionen in „einschlägigen Kreisen“ von diesen Jugendaufsätzen an für Philosophie und philosophisch gemeint gehalten wurden, glaubte man, ihm nur „philosophisch“ beikommen oder gerecht werden zu dürfen. Demzufolge hatten alle, die ihm und seinen Problemen näher traten, mit eigenen philosophischen „Klimmzügen“ und anderen gehirnakrobatischen Leistungen zu beweisen, auf welcher „philosophisch“ zu nennenden „Höhe“ sie sich seinen gut bis sogar blendend formulierten Tiraden gegenüber - auf Augenhöhe gleichsam! - gewachsen zu zeigen verstanden. Dabei entstanden philosophische Abhandlungen und Traktate in Massen! Viele interpretierten in Ns von „links“ bis extrem „rechts“ so gut wie Alles geduldig zulassende Beliebigkeit hinein, was sie auf ihre als „logisch“ erachtete Weise sich dabei „dachten“, - samt ihrer eigenen , vielfach erstaunlich erfinderischen Geisteskraft, in welche sie sich und Ns Aussagen hüllten, so wie sie auch ! - warum nicht? immer wieder und weiter idealisiert! - verstanden werden konnten ! Was aber, wenn es sich bei N, - einmal bis in Nuancen hinein hinter sein Emerson-Geheimnis gekommen! - den Fakten nach gar nicht um Philosophie gehandelt hat, sondern um selbstdarstellende, persönliche Probleme sich selbst „überwinden“ wollende, von Wunschträumen gelenkte Überredungskunst zu dem, was N ausnehmend wichtig schien? Im weiteren Verlauf der Betrachtung von Ns „geistigem“ Lebensverlauf wird dieser Gesichtspunkt den Vorrang haben, wenn das „Philosophische“ in seinem Zusammenhang zu beurteilen ansteht.
Damit wäre die einem Meteoreinschlag vergleichbare Bedeutung Emersons für N, in ihrem eigentlichen Umfang und ihrer Tiefe abgehandelt. Bevor er nach seinen „Jugendschriften“ aber sein tägliches Pfortaer Leben wieder aufnahm, reiste er in den Osterferien noch - von Karfreitag, den 18. bis Ostermontag, den 21. April - nach Dresden, zu einem Besuch der dort in einem Mädchenpensionat weilenden 14-jährigen Schwester Elisabeth. Das geht aus einem unmittelbar anschließend geschriebenen Brief an sie - aber aus sonst nichts weiter! - hervor. In diesem Brief heißt es, unter dem Datum Ende April 1862:
Liebe Elisabeth! Indem ich dies schreibe, stehe ich [in Pforta] am Stehpult, das Stehpult steht am Fenster, das Fenster bietet eine schöne Aussicht auf die blühende Linde und die sonnenbeschienenen Saalberge: die liebliche Natur aber erinnert mich sehr lebhaft an Dresden und die angenehmen, dort verlebten Tage. Um mich an Dich zu erinnern, liebe, liebe Lisbeth, brauche ich nicht erst dergleichen etwas weitschweifige Erinnerungshebel: im Gegenteil denke ich so beispiellos oft an Dich, dass ich eigentlich fast immer an Dich denke, nicht einmal, wenn ich schlafe, ausgenommen; denn ich träume ziemlich oft von Dir und unserm Zusammensein.
Da gab es Bande zwischen den Geschwistern, die ihrem Ausmaß nach nicht ohne psychische Bedenklichkeit erscheinen, vor allem seitens des autistisch veranlagten N, - blieb er doch sein Leben lang trotz schwerster Zerwürfnisse immer wieder unterlegen an seiner Schwester, die ihm im Umgang mit der Lebensrealität weit überlegen war, hängen!
Nicht wahr, es hat sich alles ganz köstlich getroffen? Ich habe es, bis ich wirklich fort war, nicht recht geglaubt, dass es zu der Reise kommen würde; und nun habe ich so wunderschöne Tage in Dresden verlebt und habe mich mit Dir so oft und so ausführlich unterhalten können! Du bist doch eigentlich kaum 7 Wochen fort: Gott, die Zeit scheint mir ein kleines Jahrhundert zu sein! Und jetzt bildet mein Aufenthalt in Dresden den farbenreichen, poetischen Hintergrund für die Prosa meines Alltagslebens! Ich hoffe, dass Du übrigens in keiner Beziehung traurig bist, dass ich nicht länger in Dresden bleiben konnte: mein Gott, Michaelis [am 29. September] sehn wir uns ja wieder, und das ist ja kaum ein Halbjahr! Meinst Du, das ist ein schlechter Trost! Lieb ich nicht!?
Dresden ist ja zu gemütlich, da wirst Du es doch die paar Monate aushalten können! Vor allen Dingen suche nur alle Kunstschätze Dresdens recht kennen zu lernen [kein Wort darüber, ob und was Er davon während seines Aufenthaltes selbst gesehen hat!] damit Du auch in dieser Beziehung etwas Ordentliches profitierst [zu deinem Vorteil hast]. In die Bildergalerie musst Du wöchentlich mindestens ein- bis zweimal laufen, wenn Du Dir auch immer nur zwei, drei Bilder so genau ansiehst, dass Du mir eine detaillierte Beschreibung (natürlich schriftlich) davon machen kannst. Nicht wahr, sehr egoistisch? Lieb ich nicht? [Es klingt beinahe danach, als wären sie in ihrer Gemeinsamkeit zu derlei nicht gekommen., denn von Dresden enthält der Brief mit keinem Wort etwas Konkretes!] Meine Rückreise war mehr oder weniger langweilig ….. Besuchte in Naumburg meine Freunde und wandelte am Abend ihn ihrer Begleitung anmutig [was mal wieder ein Wort aus selbstzufriedener Selbst-Betrachter-Perspektive mit reichlichem Selbst-Bewunderungsanteil war] meiner Pforte zu. Außer diesen großartigen Ereignissen habe ich noch nichts Bedeutendes erlebt, da wir uns genugsam über alles gesprochen haben. Lebe, beiläufig gesagt, recht hübsch wohl und denke ohne weitere sentimentalen Ergüsse an Deinen Dich herzlichen liebenden Fritz. (302)
Es steckt eine reiche Palette von Liebesgefühlen in diesem Brief. Sehr wenig aber über Dresden. Hat N dort überhaupt etwas gesehen? Das Ereignis Dresden perlte irgendwie ab, als wäre es eigentlich nicht geschehen. Die Reise nach Nürnberg vor knapp einem Jahr hinterließ wenigstens in den nachgelassenen Notizen - sehr versteckt zwar, aber doch erkennbare - Spuren! Von Dresden gibt es nichts als diesen Brief, in dem nichts außer N und der Schwester vorkommt; als wäre die Welt und Dresden außer den beiden nicht anwesend gewesen. Ebenso waren danach die geistigen Emerson-Höhenflüge wie nicht gewesen. N kehrte zurück in die Pfortaer Alltäglichkeit und dort hielt ihn nichts in den „herrscheramtlichen“ Höhen seiner ja nur erdachten Probleme. Diese waren jetzt von handfesterer Natur, bestanden aus Lernen, Aufmerksamkeit, Sehnsucht nach Wärme und Häuslichkeit, nach Träumerei und Müßiggang hin und wieder und der Vorfreude auf die zunächst anstehenden Sommer- und Hundstagsferien. Aus seiner Sicht war das eine Existenz, an der nicht viel zu ändern war. Durchstehen war die praktisch angesagte Parole! Es gab keinen Ausweg, keine Flucht. Nur die Träume und Illusionen über gedanklich erreichte „Einsichten“ von Zusammenhängen, wie sie ihm Emerson geboten hatte. Zur Gläubigkeit gab es, wenn auch die leeren Schablonen gelegentlich noch zu benutzen waren, keine innerlich halt- oder tragbaren Verbindungen mehr.
Mitte Juni 1862 traf bei N ein Brief der Schwester aus Dresden ein. Sie schrieb ihrem Bruder:
Mein teurer lieber Fritz! Recht lange habe ich Dich warten lassen mein Herzensbrüderchen auf eine Antwort, [auf den „Liebesbrief“ Ns gleich nach seiner Rückkehr aus Dresden Ende April!] nicht wahr. Nun hoffentlich bist Du mir nicht böse. Du weißt ja, wie vielerlei mich immer davon abhält und jetzt habe ich wieder so viel zu tun gehabt, oder ich hatte vielmehr so mannigfaltiges Vergnügen, dass ich kaum die Briefe an Mutterchen und die nötigen Geburtstagswünsche fertig brachte. Ich war jetzt mehrere Male im Sommertheater ….. natürlich waren es nur Possen oder kleine Lustspiele ….. Ach Fritzchen ich möchte Du kämst jetzt noch einmal ….. Ich habe mich jetzt die Zeit über sehr gut amüsiert ….. Denke Dir eine drollige Geschichte passierte neulich. Unser Stubenmädchen kommt mit der Nachricht zwei junge Herren wünschten die gnädige Frau zu sprechen [das war sie selbst!] ….. Diese holden Jünglinge! Sie machten mir Visite und luden mich auf einen ganzen Tag zu Bergmanns ein, wo es reizend war. Denke Dir es gab da 4 Studenten! Du kannst meinen Schreck denken ….. Einer der anderen Studenten gefiel mir auch sehr gut. Er war ein Schwede von Geburt. Wir haben uns sehr interessant unterhalten und ich habe die [für ihre Einfalt typische] Bemerkung gemacht, dass ich mich über Alles unterhalten kann, ohne sehr viel davon zu verstehen. Es ist dies sehr angenehm. Findest Du nicht? [Das war ein beinahe Oscar-Wilde-reifer Beitrag zu einem Bühnen-Dialog in einem seiner Stücke!] ….. Hast Du zum Geburtstag an den Onkel Oscar geschrieben? Ich habe es getan, aber nur sehr flüchtig, da ich an diesem Tag sehr wenig Zeit hatte ….. Nun kommt auch bald mein Geburtstag [am 10. Juli] ich freue mich riesig darauf. Ach ich wünsche mir so viel! Liebes Fritzchen ich habe auch ein Wünschchen für [an] Dich und dieser ist: Dein Bild. Bitte, bitte! Du könntest Dir gar nicht denken, wie ich mich freuen würde ….. Lebe wohl und denke manchmal an Deine Dich zärtlich liebende Schwester Elisabeth N.
Читать дальше