Den Freunden versuchte N mit seinen neuen Gedanken zu imponieren. Seitens der Freunde blieb nichts erhalten, aus dem sich auf eine irgendwie geartete Reaktion auf Ns Brief schließen ließ. Es erscheint als gut möglich, dass er mit seiner neunen Weltsicht ihnen gegenüber sehr alleine blieb.
Den offiziellen Kommentaren zur Briefausgabe (KGB) nach bezögen sich diese Weisheiten auf Ludwig Feuerbach, 1804-1872, einen deutschen, sozialdemokratisch orientierter Philosophen, dessen Religions- und Idealismuskritik grundlegenden Einfluss auf die Humanwissenschaft, wie die Psychologie gewann. Tatsächlich aber ist zu einem gut 90-prozentigen Anteil Emerson darin enthalten, denn Feuerbach hat allenfalls im Zusammenhang mit dem stark kritisierten Wagner bei N Erwähnung gefunden und lag entfernt nicht auf Ns genie-seliger Linie. Sein Name taucht bei N erstmals 1887, eineinhalb Jahre vor Ns „geistigem“ Ende auf und sicher hatte Feuerbach zu wenig mit N gemein, dass für N ein Anlass bestanden haben könnte, ihn zuvor als einen so geheim zu haltenden Schatz wie Emerson zu behandeln.
Dieser Emerson-lastige Brief an die Freunde ist ein Beleg für Ns „Öffnung“ in „dieser Sache“: Dass er das, was ihn selbst so bewegte, auch - ohne Emersons Namen zu nennen ! - nach außen dringen ließ. Die beiden wenige Tage zuvor aus Emersons Geist heraus entstandenen Aufsätze waren nämlich nicht für den „geistigen Dreibund Germania“ geschrieben, sondern für N selbst, nach seinem auch später immer wieder befolgten Prinzip „mihi ipsi scripsi“ - ich habe für mich selbst geschrieben! Erst gut ein Jahr später, im Juli 1863, entschloss sich N unter diversen Notizen „Für die Ferien“ unter anderem zu dem Eintrag:
Emerson . Eine Skizze des Buches [dabei ging es jedoch um mindestens zwei, die aber für N sicherlich eine Einheit darstellen sollten] für meine Freunde. Seine Betrachtungsweise amerikanisch. „das Gute bleibt, das Böse vergeht.“ Über Reichtum. Schönheit [beides sind Überschriften von Kapiteln/Essays aus Emersons „Führung des Lebens“!]. Kurze Auszüge aus allen Essays [also auch des Bandes mit den „Essays“]. Über Philosophie im Leben [was hauptsächlich die „Führung des Lebens“ mit dem Eingangskapitel „Fatum“ betraf]. Vielleicht in Sangerhausen [dem Wohnort des Vormundes, Rechtsanwalt Daniel Dächsel, angeheirateter Onkel und Ehemann der Stiefschwester des Vaters, Tante Friederike, anlässlich eines Ferienbesuches bei diesen beiden] zu schreiben, morgens. Mit Muße und Sorgsamkeit. BAW221f
Innerhalb dieser Aufstellung „Für die Ferien“ gab es 1863 auch die Überschrift „Welche Bücher ich brauche“. Dort wird unter viel Schulischem an 8. Stelle „Emerson“ BAW2.222genannt, - nur scheinbar so beiläufig wie es den Eindruck macht. Denn im Juli 1863 häufen sich Ns Einträge mit Bezug auf seinen Lehrmeister, auch wenn N sich nicht immer die „Mühe“ machte, seinen Namen zu nennen. N war also zwei Jahre später wieder tief in Emerson versenkt und versponnen. Davon wird des Genaueren zu berichten sein.
Zur Zeit der Jugendaufsätze, Ostern 1862 war N von Emerson bereits durch Monate hindurch seelisch unvergleichlich tief berührt, betroffen und geformt worden - die Inhalte erschütterten ihn ja noch nach zwanzig Jahren so sehr, dass er vor sich selber nicht wagte, Emerson zu loben , weil der ihm „zu nahe stand“ 9.588
Der zu jener Zeit in sich selbst sehr unsichere N, der sich und seine Bedeutung gerade von Emerson erklärt bekommen hatte, verhielt sich mit den ihm neu zugekommenen Weis- und Wahrheiten wesentlich vorsichtiger, zurückhaltender, verschlossener als bei der gut dreieinhalb Jahre später unternommenen streitbar konsequenten „Schopenhauerisierung“ seiner gesamten Umwelt, wo alle an das Gleiche, an den gerade entdeckten, damals allgemein ziemlich unbekannten und somit vom Seltenheitswert geadelten Schopenhauer zu glauben hatten - auf dass die Freunde auch das „elitäre“ Bedürfnis, „führend“ und „einzigartig“ zu sein, mit N teilen konnten: Dabei ging es N um ein Gemeinschaftserlebnis in seiner Parallelwelt , wo aber auch nicht alle als „Gleiche“ zu erachten waren.
Die N von Emerson her zugekommene „Erwähltheit“, sein gerechtfertigtes „Herrscheramt“ hatte unentdeckt zu bleiben. In diesem Punkt unterschied sich Ns Glaube an Emerson von seinen gläubigen Gefolgschaften anderen gegenüber, zum Beispiel Schopenhauer und Richard Wagner. - Es gab von Ns Seite her keine missionarische Arbeit in Sachen Emerson, der ihm wegen zu viel allzu Persönlichem letztlich selbst vorbehalten bleiben sollte! - Ihm gegenüber herrschte bei N das Bedürfnis vor, ihn für sich zu haben, verwahrt zur Sicherung seiner Vorrangstellung, zu der keine Konkurrenten durchzulassen waren. Über alle anderen vermochte N mitzuteilen und als nur einer von mehreren Anbetern zu gelten. Das war ihm „genug“ so lange er die tieferen Konsequenzen des ihn bevorzugenden Emersongeheimnisses wahren konnte. Emerson wurde zurückgenommen ins Private und allzu Intime, - wo N tief verwundbar war. Als sein Sprachrohr verkündete N Emersons Weisheiten und Wahrheiten über diese Welt - mit denen er sich, als wären es seine eigenen, identifizierte und brüstete! - in dem Brief wie in den Aufsätzen, die deshalb so fertig, so entschlossen, so seiner Sache sicher wirken. Hier nun der tief in Ns von Emerson abhängige Seele blicken lassende, vieles von Ns Psyche offenbarende, seinen „geistig-gefühlsmäßigen“ Standpunkt bestimmende Wortlaut der beiden „Aufsätze“:
Fatum und Geschichte. Gedanken. Osterferien 1862 FW Nietzsche
Wenn wir mit freiem unbefangenem Blick die christliche Lehre und Kirchengeschichte anschauen könnten, so würden wir manche den allgemeinen Ideen widerstrebende Ansichten aussprechen müssen [ müssen ! - Nicht wollen, nicht können, nichts was nach eigener Entscheidungsfreiheit klingen würde! - sondern das Müssen in unentrinnbarer Gefolgschaft und Verpflichtung einem höheren Gesetz gegenüber! Von Anfang an! Auf diese Weise geriet Ns Existenz, so wie sie war, in den schicksalsbestimmten und bestimmenden Mittelpunkt der wahren Zusammenhänge!] Aber so, von unseren ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit [das hatte Er - außerhalb von all dem, aber nur auf einem anderen , ihm mehr zusagenden Glauben stehend! - „erkannt“!] und der Vorurteile, durch die Eindrücke der Kindheit in der natürlichen Entwicklung unseres Geistes gehemmt [aber nicht auch unglaublich gefördert? - Da offenbarte sich schon die betonte Kontra-Stellung, das Negieren dessen, was ist ! - Unter Benutzung zumeist negativ besetzter, destruktiver Begriffe!] und in der Bildung unsres Temperaments bestimmt, glauben wir es fast [nur fast , also nicht tatsächlich !] als Vergehen betrachten zu müssen, wenn wir einen freieren [ohne zu werten! - nur einen anderen !] Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches [gerade das waren seine ihn begünstigenden, selbstmittelpunktlichen Standpunkte nie!] und der Zeit angemessenes Urteil über Religion und Christentum fällen zu können. Ein solcher Versuch ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens. BAW2.54
Da sprach N aus der „Erfahrung“, den „Erlebnissen“ der letzten mit Emerson-Lektüre zugebrachten Monate, - seit Nürnberg, seitdem er an dem schweren Brocken Emerson zu kauen begonnen hatte und kein Ende sah und schon entschlossen war, das da auf ihn Zugekommene ein Leben lang zu vertreten und zu verteidigen - weil genau dies sein Eigenstes, seine gesamte - auf Besonderheit so sehr angewiesene ! - Existenz betraf !
Noch war Ns Position als „dies Schreibender“ unsicher: Einerseits wollte er „mit freiem unbefangenem Blick“ - mit seinem von Emerson umfangenen - „ neu gewonnenen “ Blick! - der in seiner Selbstmittelpunktlichkeit ja alles andere als „frei“ und „unbefangen“ war! - „die christliche Lehre und Kirchengeschichte anschauen“. Aber er traute sich noch nicht recht. Das zeigt sich in dem „anschauen könnten “, als eine von letztlich und vielleicht auch ganz anders gearteten Möglichkeiten, denn er empfand, wie sehr er „von unseren ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurteile, durch die Eindrücke der Kindheit“ beeinflusst wäre und dies lastete auf seinem „Gewissen“, was er wahrnahm als „in der natürlichen Entwicklung unseres Geistes gehemmt“ - ohne zu bedenken, was denn diese „natürliche Entwicklung unseres [ seines !] Geistes“ wäre - und wohin sie führen - könnte! - Wobei er das, woran er dachte , ihm seiner Erziehung gemäß ein Schlechtes Gewissen bereiten musste , weshalb er dazu sicherlich unbewusst das Wort „Vergehen“ einfließen ließ, so sehr war er doch eingebunden in das, was er bisher - und auch in dem Brief an die Freunde noch! - als alleingültig erachtet hatte! Die radikale Bereitschaft aber, dennoch - wie bei Emerson erfahren! - weit auszugreifen, zeigt sich schon im nächsten, mit aller Bestimmtheit angebrachten und auf ihn selbst bezogenen Satz:
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