Mit siebzehn Jahren, 1861, in den mit Emerson getränkten Wochen nach Nürnberg, war N trotz „herrscheramtlicher“ Prägung noch nicht so weit, all das in sich aufzunehmen, zu „verarbeiten“ und zu festigen. Die Dauerlektüre Emersons brauchte Zeit um zu wirken und sie war umfangreich. Was gab es da zu entdecken, denn noch hatte N ja nicht alle Weisheiten der 448 Seiten umfassenden „Essays“ - das heißt das daraus, was ihm als Erklärung zu seiner eigenen Existenz dienlich sein konnte! - aufgenommen, verinnerlicht und als Leitfaden zur eigenen Lebensführung „identifikatorisch“ übernommen. Da fehlte noch allerhand und war ihm reichlich gegeben, sich darin zu erkennen: Was er in Wahrheit sei und werden könne! Denn von dem, was N bei Emerson las, war ihm Vieles wesensmäßig derart vertraut, dass er sich von und bei ihm verstanden und eben auch 20 Jahre später noch, 1881, ohne geringsten Abstrich davon „so zu Hause“ 9.588fühlte.
An dieser Stelle nun ist endlich der lange Umweg zur Klärung von Ns Tiefen-Verhältnis zu Emerson und zu den von diesem beschriebenen besonderen „Momenten“ zu Ende. Diese Ausführungen mussten unternommen werden, um versuchsweise die verborgenen, schwer fasslichen, nicht einfach eins zu eins belegbaren hintergründlichen Beziehungen aufzuzeigen! Emersons Text über „die höhere Seele“ setzt sich nach der klaren Unterscheidung der beiden Bedeutsamkeiten von Erlebnissen - einerseits die „kurzen höheren Momente“, andererseits das zeitlich überwiegenden „eingewurzelte Laster“ nach einem schwer verständlichen Satz dazwischen auf folgende Weise fort:
Die Philosophie von sechstausend Jahren hat nicht die Kammern und Magazine der Seele untersucht. In ihren Experimenten ist bei der letzten Analyse immer ein Rückstand geblieben, den sie nicht auflösen konnte. Der Mensch ist ein Strom, dessen Quelle verborgen ist. Immer kommt uns unser Sein, wir wissen nicht woher. Der genaueste Berechner hat kein solches Vorwissen, das nicht etwas Unberechenbares gerade den nächsten Moment verändern könnte. Ich bin jeden Augenblick gezwungen, einen höheren Ursprung der Ereignisse anzuerkennen, als den Willen, den ich mein nenne. EE197
Das kann man so sehen. Die Philosophie der Vergangenheit - egal wie weit zurückrechnend man dabei die gewonnenen Erkenntnisse einzubeziehen gedenkt - hat sich in ihren Erklärungsversuchen vor allem dem Denk- und Vorstellbaren zugewandt, welches sich als mehr oder weniger allgemeinverständlich und allgemein gültig erweisen konnte aber dabei die längste Zeit in breitem Strom die gegebenenfalls sehr eigenwilligen und auch gefährlichen Gefühlslagen einzelner Individuen zu wenig berücksichtigt. Dies dürfte im letzten hier von Emerson angeführten Absatz angesprochen worden sein. Dass „in den Experimenten bei der letzten Analyse immer ein Rückstand geblieben“ ist, ließ sich - bezüglich der hier beschworenen Betrachtung der „höheren Seele“ des Individuums! - schon deshalb nicht vermeiden, weil bei der Beurteilung dessen, was dabei als „Wahrheit“ bezeichnet werden kann - für wen? und nicht generell nach mehrerlei Maßen und neben der einzubringenden „Psychologie“! - vor allem abhängig ist von der Parallaxe der unterschiedlichen Sichtweisen und deren Blickwinkeln, die sich ergeben, wenn die „Wahrheit“ unterschiedlicher Individuen und eben nicht - wie bei N! - in totalitären Anwandlungen nur von einem allein betrachtet und also auch nicht bestimmt werden darf; - d.h. dass es notwendig ist, einen verlässlichen „Anker“ für eine vertretbare Allgemeingültigkeit zu bilden.
Dass „der Mensch ein Strom ist, dessen Quelle verborgen“ bleibt, beruht auf nichts anderem, als der Unterschiedlichkeit des Erlebens eines Jeden gegenüber dem zumeist ziemlich grundsätzlich anders ablaufenden Erleben anderer, die zweifelsohne zu dem Ganzen des Welterlebens dazugehören ! Schon aus dem Grunde, dass jedes Ich zugleich auch „ein Anderer“ ist: Ein unaufhebbares Zusammentreffen zweier „Wirklichkeiten“ in jedem Ich! Miteinander vereinbaren lassen sie sich nur durch ein kompromissbereit eignes Verhalten, oder man gerät, wie N es erlebt hat, in eine fürchterliche Einsamkeit, bei dem Versuch, einen Teil von sich selbst „im Anderen“ nicht anzuerkennen.
„Unser Sein“ kommt natürlich „wir wissen nicht woher“, weil wir von so etwas wie einem wirklichen und unvergleichlichen „Sein“ - wenn überhaupt! - nur unser eigenes kennen, - im Gegensatz zu „allen Anderen“, von denen wir entfernt nicht die gleiche „Erfahrung“ haben (können), - so wie von uns selbst, - ein Unterschied, den jeder in seinem Leben mehr oder weniger freiwillig auf seine eigene - und insofern auf die ihm gemäß „ gleiche “! - Weise verkraften muss! Deshalb hat auch „der genaueste Berechner kein solches Vorwissen“, welches prinzipiell wegen unserer eigenen Unkenntnisse nicht im Voraus berechenbar oder vorherzusehen ist, - „arbeitet“ doch alles Leben mit unvollständigen Informationen und erscheint - auch! - in diesem Punkt „für alle“ in ihrer physischen Verschiedenheit gleich !
„Jeden Augenblick“ ist ein Jeder - auf seine Weise! - „gezwungen, einen höheren Ursprung der Ereignisse anzuerkennen“, weil eben so gut wie nichts nur vom eigenen Ich, sondern auch von „den Anderen“ abhängt, indem Vieles von „ihnen“ veranlasst oder eben zuzulassen ist. Dies zu berücksichtigen ergibt eine Perspektive, die richtig stellt, was die hochsubjektivistische Weltsicht Emersons - und auf wesentlich radikalere und engstirnig totalitär-fanatische Weise N! - vertrat, - indem vor allem N sich alle nur denkbare Mühe gab, „die Anderen“ außer Acht zu lassen, um sich selber umso mehr und besser herauszustellen.
Von dem, was N bei Emerson des Weiteren entgegengetreten ist, sind noch etliche bezeichnende Beispiele zu bringen weil sie wesentliche Charakteristiken Ns in geradezu grausamer und manchmal auch zynischer Vorwegnahme beschreiben. Sie lassen erkennen, wie sehr N Emersons unbedachten Vorgaben nachgelebt hat und wie sehr sie ihn formten:
Die Souveränität dieser Natur, von der wir reden, ergibt sich aus ihrer Unabhängigkeit von jenen Beschränkungen, die uns [in der Realität!] allenthalben hindernd in den Weg treten. Die Seele umschreibt alle Dinge. [Die nächsten beiden Sätze hat N seitlich angestrichen:] Wie gesagt, sie widerspricht aller Erfahrung. In gleicher Weise hebt sie Zeit und Raum auf [aber wie sollte sie das - außerhalb der alles zusammenklingen lassenden aber defekten Momente! - tatsächlich können? Da Zeit und Raum nicht nur „ in dieser Seele“ sondern auch außerhalb, bei „den Anderen“, gelten? Dies verdeutlicht, wie sehr sich für N die „bewusst-unbewussten Momente“ außerhalb von Raum und Zeit, also nur innerhalb von Emersons Individualität befanden! - Auch das Folgende hat N seitlich angestrichen:] Der Einfluss der Sinne hat bei den meisten Menschen in einem solchen Grade Gewalt über den Geist [der doch auf die Erfahrungen mit und aus der ihn umgebenden Wirklichkeit angewiesen ist!] geübt, dass die Mauern von Zeit und Raum das Ansehen der Solidität, der Wirklichkeit und der Unübersteigbarkeit bekommen haben; und mit Leichtigkeit von diesen Grenzen zu sprechen, gilt in der Welt als ein Zeichen von Verrücktheit. Dennoch sind Zeit und Raum nur das umgekehrte Maß für die Kraft der Seele. Der Mensch ist fähig, sie beide zu verwerfen. EE.200
Dass in Ns herausgehobenen Glücksmomenten - durchflutet von Licht und Allwissenheit! - so realitätsverbundene Erscheinungen wie Raum und Zeit überblendet waren, gab ihm den doch sehr oberflächlichen und kurzsichtigen Mut zu seiner Unterstreichung dessen, dass „sie beide zu verwerfen“ wären! Es handelte sich ja „nur“ um Realität , die - vor allem für N! - in jeder Hinsicht leicht zu verneinen war!
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