Auch nicht um einen Schritt ist der Mensch der Lösung des Rätsels seiner Bestimmung näher gerückt. Von ein und derselben Schwachheit des Geistes wird in dieser Beziehung das ganze Universum der Menschheit betroffen. Aber die harmonische Reinheit und Lauterkeit der Freude und des Friedens die mir in der Vereinigung mit der Seele meines Bruders wird [dies überdies seitlich mehrfach angestrichen!], das allein ist die Nuss, gegen die die ganze Natur und alles Wissen nichts als Hülse und leere Schale ist. Glücklich ist das Haus, das einen Freund unter seinem Dache beherbergt! Ja, ihn nur einen einzigen Tag in seinen Mauern aufnehmen zu können, dazu möchte es eigens gebaut werden, gleich einem Triumphbogen oder einer Ehrenpforte. Glücklicher ist es, wenn er das Heilige solcher Verbindung kennt und ihre Gesetze ehrt. EE.148f
Zu diesen maßlos wirklichkeitsfremden Auslassungen notierte sich N im Herbst 1880 unter Bezugnahme auf die betreffende Seite: „Die Freundschaft höher herauf heben. NB Emerson 149“ 9.315
Die Freundschaft hinaufheben - zu ihm hin! - in die illusionären Sphären praktischer Unmöglichkeit! Um auf diese Weise, dass alles nicht gut genug für ihn wäre, seine Einsamkeit, sein Sich-nicht-anschließen-können zu rechtfertigen ? Dem Prinzip nach wird hier die Freundschaft zu den sauren, zu hoch hängenden Trauben des Fuchses in der Fabel des berühmten französischen Schriftstellers Jean de La Fontaine, 1621-1695.
Zwei Bestandteile sind es, die die Freundschaft begründen helfen und beide stehen so hoch da, dass ich nicht weiß, welche ich höher stellen soll [das entsprach Ns „superlativen“ Schwierigkeiten!]. Einer ist die Wahrheit. Ein Freund ist ein Wesen mit dem ich wohl aufrichtig sein kann [aber wohl aus ehrlicher Freundschaft heraus auch nicht unbedingt immer!] Vor ihm kann ich laut denken. Ich befinde mich endlich einem so wahren und mir gleichgesinnten Menschen gegenüber, dass ich selbst die letzte Hülle, die noch zwischen uns ist, die der geringsten Verstellung und Höflichkeit und der Nebengedanken, die sich zu machen der Mensch niemals [eben!- drum!] unterlassen kann [denn mit der erstrebten 100%-igkeit wird das nie vollkommen klappen!], wohl fallen lassen und mich so einfach und in solcher Ungeteiltheit zu ihm stellen kann, wie ein chemisches Atom sich zum andern stellt. Aufrichtigkeit ist ein erlaubter Luxus, gleich Diademen [Stirn- oder Kopfschmuck] und Vollmachten, aber nur ersten Ranges, das Erlaubtsein im Sprechen der Wahrheit, das nichts mehr über sich erblickt, dem es irgendwie zu huldigen oder selbst nur beizustimmen geneigt wäre. EE.149f
Das zuletzt Unterstrichene hat N auch am Rande mit mehreren Strichen markiert. Dazu notierte er sich auf dieser Emerson- Seite 149, im Herbst 1880: Dies ist die Sache und nicht nur das Gleichnis. Mein Verdacht, dass wir eine Sprache für chemische Tatsachen haben. 14.638
Was immer N sich dabei gedacht und gemeint haben mag. Aber: „Eine Sprache für chemische Tatsachen“? Ns Anmerkung verrät da eine der vielen „logischen Lücken“ in seinem Denken: Erst einmal die Unklarheit im Umgang mit der Unterscheidung von „Gleichnis“ und „Sache“ und dazu noch die letztlich irrsinnige Annahme, dass es eine „Sprache für chemische Tatsachen“ geben könnte! Das ist wohl alles sehr aus der Luft gegriffen und realitätsfern, denn „die Sprache“ kann alle Themen bewältigen, ohne deshalb physikalisch, geographisch, chemisch oder schlichtweg „sprachlich“ werden zu müssen!
Jeder Mensch ist wahr, so lange er mit sich allein ist. So wie aber eine zweite Person dazu kommt, beginnt eine Art Heuchelei. Wir parieren und wehren die Annäherung unserer Nebenmenschen ab durch Komplimente, Klätschereien, sonstigen Zeitvertreib oder durch Geschäfte. Unsere Gedanken wissen wir auf hundertfältige Weise vor ihnen zu verbergen. Ich habe einen Mann gekannt, der unter einem gewissen religiösen Fanatismus diese Maske abwarf und alle Komplimente und alles konventionelle Wesen bei Seite setzend, zu dem Gewissen eines Jeden, der ihm in den Weg kam, redete und das mit großer Einsicht und auf wunderschöne Weise. EE.150
Ab „Unsere Gedanken“ hat N auch hierneben dicke Markierungen angebracht. Der Bezug auf „jeden Menschen“ kam bei N sicherlich nicht gut an. Das lag weit außerhalb seines Interesses. Dennoch gilt das, was Emerson hier über die von N geliebte Einsamkeit ausführte auch für N, den lieben, netten, überaus höflichen und rücksichtsvollen Gesprächspartner, der sich zurücknahm bis zur Selbstverleugnung, um sich dann, in seiner wiedergewonnenen „Einsamkeit“, in der Parallelwelt seines „philosophierenden Herrscheramtes“ und seinem beliebigen Verfügen über „die Anderen“ geradezu rauschhaft hinzugeben, des Glaubens, dass es seine Aufgabe sei, die Menschheit mit seinen notzüchtigenden „Erkenntnissen“, mit seinem „Willen zur Macht“ und seinen Absichten zur „Züchtung des Übermenschen“ zu beglücken und zu „überwältigen“; - all das erst später, nicht schon als knapp 17-jähriger Pfortaer Schüler!
Nur indem du deinen ruhigen Weg gehst, wirst du Großes erreichen [wonach N sich ja unbedingt sehnte! Es sei an den noch 1883 erdichteten, viermalig vorkommenden „Weg der Größe“ 4.194, den er im dritten Teil des „Zarathustra“ beschritt, erinnert], selbst wenn du nur Geringes vertrittst. Man wird von dir reden. Du erklärst dich, und in der Weise, dass du dich dadurch außer dem Bereich alles dessen setzest, was deiner irgendwie unwürdig wäre und dich zu den Erstgeborenen der Welt aufschwingst [das war ja gewaltig!], jenen seltenen Pilgern, von denen immer nur einer oder zwei zur Zeit in der Natur gefunden werden [na? - wenn das, „an den richtigen Mann“ gebracht, nicht die höchsterreichbaren Superlative bietet, die „das Leben“ zu vergeben hat? Damit aber nicht genug; Emerson setzte seinem Extrem-Vergleich noch einen drauf] und vor denen die[jenigen], die wir gemeinhin die Großen nennen, zu bloßen [winzigen, Fliegenfrosch erbärmlichen!] Erscheinungen und Schatten herabsinken. EE.159
Das war es doch, worum N sich lebenslang bemühen sollte! In seiner Vorstellung ist ihm ja auch gelungen, was ihm, seiner Meinung nach, das Recht gab, sich mit seiner und in seiner von allem Bisherigen extrem abgesetzten „Gedankenwelt“ und Weltbewertung, als „der erste Geist des Zeitalters“ 9.10.88fühlen zu können und dies auch verkünden zu dürfen; - zum Beispiel gegenüber dem Dirigenten Hans von Bülow, dem er schrieb: „Sie haben auf meinen Brief nicht geantwortet ….. Ich denke, Sie haben einen Begriff davon, dass der erste Geist des Zeitalters [aber aufgrund von was eigentlich? Aufgrund seines unmäßigen „Willens zur Macht“? - Oder weil er den „Übermenschen“, die „Ewige Wiederkehr“ oder die „Umwertung aller Werte“ erfunden hatte? - und als ein derartiges Wundertier] Ihnen einen Wunsch ausgedrückt hatte“ 9.10.88oder an seine mütterliche Freundin Malwida von Meysenbug mit den Worten: „Ich bin in Fragen der décadence, die höchste Instanz, die es auf Erden gibt“ 18.10.88. Da gilt das Gleiche: Aufgrund welcher Leistung ?
Den N-Begeisterten galt derlei als völlig normal! Alles was N dachte und tat, beruhte in seiner Bedürftigkeit nach „Schulgesetz“ und höchster Anerkennung; - in den weitaus meisten Fällen aufgrund von Emerson-Sätzen, die er zu ernst genommen hatte, weil er sie vollkommen kritiklos immer unmittelbar auf die Einzigartigkeit der Gegebenheiten seiner Existenz bezog. Es gibt viele weitere Beispiele dafür; - und damit „Beweise“, die Ns Wirklichkeit erklären und seine Schauspielerei dem Leben gegenüber „verständlich“ machen: Die beliebige Ausdeutbarkeit Emersons gab ihm den „Rahmen“, die Beliebigkeit seiner ausufernden Subjektivität zu „ rechtfertigen “ und diesen Vorgang vor der Welt als eine große „philosophische Leistung“ aufscheinen zu lassen.
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