„Und?“, hakte Freysing nach. Eigentlich mochte er keine Hunde.
„Nichts, und. Er ging zu der letzten Wohnung dort hinten auf der rechten Seite. Gehört einer jungen Frau, die aber sehr selten hier ist.“ - Sie wies kurz in die entsprechende Richtung. „War recht wortkarg, der Typ! Kam mir seltsam vor, so noch halb in der Nacht am Sonntagmorgen. Als ich dann mit meinem Hündchen zurückkam, schien Licht unter der Tür durch und es waren verdächtige Geräusche zu hören, wenn Sie verstehen, was ich meine - aber ich habe ihn nicht nochmal gesehen.“
„Wissen Sie, ob er jetzt da ist?“
„Kann ich ihnen nicht sagen.“, antwortete Sie sofort.
„Trotzdem, vielen Dank! Dann werde ich jetzt einfach mal dort klingeln. Gehen sie am besten wieder rein. Man weiß ja nie, wie so einer reagiert.“
„Da haben sie wohl recht! – Komm Sheybal!“ - Sie zog sich schnell zurück und schloss die Tür. Der Hund bellte jetzt einmal kurz, doch dann herrschte Ruhe. Freysing folgte dem Gang hindurch bis zu dem Wohnungseingang, den ihm die Frau beschrieben hatte, und warf einen Blick auf das einfach geprägte Klingelschild.
„ Y. Schmidt - das ist ja sehr einfallsreich!“ , murmelte Sax zu sich selbst und legte den Zeigefinger fest auf den Klingelknopf. Es ertönte ein kaum wahrnehmbares Surren, kein lauter Gong oder schriller Klingelton. Als nichts geschah, läutete er noch zwei weitere Male. Das Ergebnis war dasselbe: Keine Reaktion!
Irgendwo im Gang auf der anderen Seite wurde eine Tür geöffnet, und eine Mutter mit zwei etwa zehn bis zwölfjährigen Kindern trat heraus, um mit ihnen zum Fahrstuhl zu gehen. Der etwas ältere Junge stritt sich gerade mit dem kopfbetuchten Mädchen, während die Mutter versuchte, durch energische, türkisch klingende Worte zu schlichten und zur Eile antrieb. Freysing beachteten sie nicht weiter. Als sie im Aufzug verschwunden waren, wurde es wieder ruhig. Der Agent fasste in eine Innentasche seines Regenmantels und zog ein kleines Etui hervor, das diverse im freien Handel nicht unbedingt erhältliche Miniaturwerkzeuge beinhaltete. Er nahm zwei Sperrhaken heraus, klemmte das Etui unter eine Achsel und begann nach einem kurzen, sichernden Blick über den Gang damit, das Sicherheitsschloss zu bearbeiten. Nach wenigen Sekunden hörte er ein Klicken, und einen Moment später gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Vorsichtig drückte er sie etwas nach innen auf. Das Licht des Treppenhauses fiel in den fensterlosen Eingangsbereich der Wohnung, und Freysing lauschte mit seinem empfindlichen Gehör aufmerksam hinein auf irgendwelche Geräusche. Doch alles blieb still.
Von jetzt an befand er sich auf sehr dünnem Eis. Weder besaß er irgendeine allgemeine amtliche Legitimation, in eine fremde Wohnung einzudringen, noch gar einen Durchsuchungsbeschluss. Er verscheuchte die typisch deutsche Denkweise und ließ die Sperrhaken schnell wieder im Etui verschwinden, steckte es weg und betrat den kurzen Flur hinter der Wohnungstür, in dem sich keine Möbel befanden. Es gab lediglich eine Wandgarderobe, an der jedoch keinerlei Kleidungsstücke hingen. Sax schaltete das Flurlicht ein und drückte die Wohnungstür hinter sich vorsichtig ins Schloss.
Drei weitere Türen gingen vom Flur aus ab. Eine von ihnen besaß eine große undurchsichtige Milchglasscheibe und führte scheinbar in ein Wohnzimmer, hinter den beiden anderen vermutete Freysing Schlafzimmer und Badezimmer oder Toilette. Er warf einen Blick in zwei der Räume und sah seine Vermutungen soweit bestätigt. Im Bad befanden sich lediglich einige benutzte größere Handtücher. Er roch an einem davon – der Duft eines würzigen, weiblichen Parfums, vermischt mit dem eines Duschgels, stieg ihm sofort in die empfindliche Nase.
Das Schlafzimmer war mit einem schmalen, hohen Schrank und einem recht bequemen, bezogenen und zerwühlt wirkenden großen Einzelbett ausgestattet. Ansonsten war es leer. Keine Koffer, keine Kleidungsstücke, keine typischen Accessoires. Im Wohnzimmer bot sich ihm ein ähnliches Bild: Nur spärliche Möbel, keinerlei persönliche Dinge. Auf dem Couchtisch standen ein einzelner benutzter, leerer Teller mit den Resten eines Mikrowellengerichts und dem darauf abgelegten Besteck, daneben zwei Gläser, in denen sich einmal Colagetränke befunden haben mochten. Eine entsprechende leere Literflasche stand auf dem Fußboden neben dem Sofa.
Sax sah sich weiter um. Er erblickte nirgendwo ein Telefon oder sonst irgendetwas, das darauf hinwies, die Wohnung sei dauerhaft bewohnt. Ein alter kleiner Röhrenfernseher stand auf einem Rundtischchen in einer Ecke. Er war völlig ausgeschaltet und kalt. An der Wand gab es lediglich zwei einfache gerahmte Farbdrucke mit fast surrealen Darstellungen des Deutschen Ecks im Sturm. Helle, jedoch leicht angegraute Feingarngardinen schirmten die Fenster ab, obwohl man aus weiter Ferne nur mit einem starken Fernglas hier hätte hereinblicken können. Diese Wohnung war nur für einen einzigen Zweck angemietet worden: Flüchtigen für einen sehr kurzen Zeitraum eine anonyme Unterkunft zu gewähren.
Zwei Türen führten vom Wohnzimmer aus zum Einen auf den Balkon und zum anderen in eine kleine Küche, jene dort bestand aus vertikal zusammengefalteten Weichholzlamellen und stand zu dreivierteln offen. Freysing trat durch die schmalere kurz auf den Balkon hinaus und blickte über die Dächer der Koblenzer Innenstadt. In der Ferne konnte er trotz des regenverhangenen Nachmittages Burg Ehrenbreitstein und die dort hinführende Kabinenseilbahn erkennen, welche die wenigen Herbstgäste über den Rhein auf den Felsen beförderte. Dann ging er gleich wieder hinein.
In der Küche fand er einen halbhohen Kühlschrank, der nur wenige Nahrungsmittel enthielt. Freysing begab sich zurück ins Wohnzimmer zum Sofa, auf dessen Rand einige ältere Zeitschriften lagen. Zwei Ausgaben eines Männermagazins, ein Spiegel , ein Kinoheft sowie ein etwas neuerer, aber benutzter GEO-Reiseprospekt über die Schweiz. Nichts von Belang. Dazu eine aktuelle deutschsprachige Boulevard-Tageszeitung vom Samstag, deren Schlagzeile lautete Kripo Voitsberg: Immer noch keine heiße Spur im Mordfall Kornbauer!. Er kam offenbar zu spät. Der Vogel schien bereits wieder ausgeflogen zu sein.
Gerade hatte er sich, reichlich enttäuscht, dazu entschlossen, die Wohnung wieder zu verlassen, als er vernahm, dass ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt und aufgesperrt wurde. Freysing ging vorsichtig auf Zehenspitzen durch den kleinen Wohnraum und platzierte sich im toten Winkel hinter der Wohnzimmertür.
Die Gestalt, die den Flur betreten hatte, schien misstrauisch, da die Tür nicht mehr abgeschlossen gewesen war und hier Licht brannte, und hielt einen Moment inne.
„Teun?“, fragte eine helle weibliche Stimme laut. „Teun? Bist du doch noch hier?“ – Es war deutsch, dabei etwas kölnischer Unterton, aber auch mit einem leichten Fremdakzent, der auf diese Weise kaum zu identifizieren war.
Als keine Antwort kam, hörte Freysing deutlich mechanische Geräusche, wie sie nur von einer kleinkalibrigen Pistole stammen können, die erst entsichert und dann durchgeladen wird. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass sich seine eigene Waffe im Handschuhfach seines Wagens am Bahnhof befand. Er wurde nachlässig!
Sax hörte, dass die Frau wie er selbst zuvor zunächst einen Blick in Schlafzimmer und Bad warf, um sich schließlich dem Wohnzimmer zu widmen. Vielleicht war sie zu dem Schluss gelangt, dass jemand – Teun? – lediglich versehentlich das Licht im Flur hatte brennen lassen, jedenfalls öffnete sie nun die Wohnzimmertür und kam ziemlich ohne Argwohn herein. Allerdings hielt sie dabei die Waffe in der Hand des leicht geknickt herabhängenden rechten Arms.
Als sie den lauernden Freysing aus dem Augenwinkel heraus bemerkte, war es für ihre Reaktion zu spät, obwohl sie blitzschnell den Arm mit der Waffe in der Hand anhob. Der wohldosierte Handkantenschlag, den er ihr ohne Vorwarnung gegen den Hals versetzte, ließ sie augenblicklich zusammenklappen. Die Pistole entglitt sofort ihrer Hand und polterte über den Teppichboden. Sax bückte sich schnell, hob die Waffe auf und warf einen Blick auf die Frau, die nun bäuchlings ausgestreckt da lag, jedoch nicht völlig das Bewusstsein verloren hatte.
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