Es war der Moment, in dem ein wenig Ruhe einkehren sollte in die Turbulenzen der fortdauernden fast bürgerkriegsähnlichen Zustände, während noch seine Stimme zwischen den Häusern und Hausruinen verhallte. Seit den ersten Tagen des Arabischen Frühlings kämpften verschiedene Gruppierungen um die Macht. Die Frontlinien zogen sich dabei quer durch alle Bevölkerungsschichten und öffentliche Einrichtungen, zuweilen sogar durch einzelne Familien. Die Ansar Bait al-Makdi, eine dem Islamischen Staat nahestehende Terrogruppe, heizte die verschiedenen Auseinandersetzungen, die eine Zeit lang oberflächlich zur Ruhe gekommen zu sein schienen, seit geraumer Weile wieder an.
Beim islamischen Opferfest vor einer Woche, der auch mit dem „Tag der Streitkräfte“ zusammenfiel, hatte es zum wiederholten Male in der Hauptstadt und anderen größeren Städten sehr gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben. Bei der Armee wusste man nie genau, auf welcher Seite sie gerade stand – hier gab es genügend Generäle und untergeordnete Ränge, die zum Teil der einen, zum Teil der anderen Kraft gegenüber gewogen waren, dann aber die Loyalitäten doch wechselten. Panzereinsätze gegen Demonstranten, Sniper-Schüsse auf harmlose Spaziergänger, Tote auf den Straßen… so konnte man einmal mehr den gegenwärtigen Zustand der gebeutelten Stadt beschreiben, welcher sich nach der gewaltsamen Absetzung des gewählten Präsidenten im Spätsommer des letzten Jahres entwickelt hatte. Nach der Konterrevolution war das Land am Nil in genau der politischen Steinzeit wieder angelangt, die es zu Mubaraks Zeiten inne gehabt hatte.
Längst hatten die Regierungen der Welt vor jeglichen Reisen in das Land gewarnt. Wenngleich es bei den Pyramiden und in einigen Landesteilen ruhig blieb, war nicht auszuschließen, dass sich die Gewalt jederzeit über Kairo und die anderen Hochburgen der verschiedenen Parteien hinaus ausdehnte. Ägypten befand sich nunmehr im Ausnahmezustand, und die Welt, soweit sie nicht gerade mit anderen Dingen beschäftigt war, fragte sich, wo dies alles noch hinführen sollte. Das Land drohte durch diese Entwicklung zum Ausgangspunkt für eine konterrevolutionäre Welle im gesamten arabischen Raum zu werden. Auch im benachbarten Libyen gab es fortgesetzt schwerste, terroristisch begründete Konflikte.
Die Großmächte bereiteten ihr militärisches Eingreifen vor. Im Mittelmeer stand die 6. US-Kriegsflotte bereit für Drohnenangriffe – freilich argwöhnisch beobachtet von den Russen, die seit des Beginns der Krise in der Ukraine selbst auch eine Intervention der NATO einkalkulieren mussten. Vor ein paar Wochen war die amerikanische Universität an der El-Sheik Rihan Ziel eines Brandanschlages gewesen; andere westliche Einrichtungen, angefangen bei einzelnen Botschaften bis hin zu einer weltweiten Fast-Food-Kette, hatten entweder ihre Pforten geschlossen oder bewaffnetes Sicherheitspersonal eingestellt. Eine Spezialeinheit der Marines bewachte die amerikanische Vertretung, eine andere des SAS die britische. Die Metro fuhr nur sporadisch, und das öffentliche Leben war beinahe zum Erliegen gekommen.
Die für eine Araberin vielleicht etwas zu große Frau unter einer völlig schwarzen Burkha bewegte sich schnell und unerkannt durch die engen Gassen der Altstadt. Nur einem sehr aufmerksamen Beobachter, der unmittelbar vor ihr stand, wäre im schmalen Augenschlitz aufgefallen, dass es sich um eine besonders hellhäutige Person handelte, die eher europäischer Herkunft sein musste. Sie wirkte einigermaßen sportlich trainiert, mehr war nicht erkennbar.
Vorbei an Bettlern, bestehend aus Heerscharen verwaister Kinder und verhärmten Bürgerkriegsversehrten mit verlorenen stumpfen Gliedmaßen, bahnte sie sich eilig ihren Weg, ohne den Begegnungen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie war spät dran. Wenn Murad sie rief, durfte sie keine Zeit verlieren! Ihr Gehorsam entsprang dabei nicht etwa familiärer Bande, sondern ihrem Dienst am Land.
Der DMG, formell „ Dschihaz al-Muchabarat al-Amma“ genannt , aber unter dem kurzen Namen „Muchabarat“ als einer von drei gefürchteten Geheimdiensten Ägyptens durch die Spezialisierung für die Terrorismusbekämpfung geläufig, hat seinen eigentlichen Sitz in einem unscheinbaren Großkomplex im Westen Kairos, das offiziell zu den Regierungsgebäuden gehört. Es geht nichts besonders Geheimnisvolles von dem Areal aus und macht auf den vorüberfahrenden Betrachter den Eindruck eines gewöhnlichen umzäunten, abgesicherten Verwaltungsbaus.
Seit der Revolution von 2011 befand sich allerdings eine kleinere Division auch in einem Teilbereich des Ägyptischen Museums direkt am Al-Tarhir-Platz. Obwohl der Keller dort hauptsächlich brutalen Verhören diente, nutzte ihn der Mukharabat gelegentlich für Einsatzbesprechungen mit seinen besten Agenten, die keinesfalls von der Öffentlichkeit als solche enttarnt werden durften, da sie mit den heikelsten Missionen im Ausland betraut werden. Das im klassizistischen Stil um die vorletzte Jahrhundertwende herum errichtete Bauwerk konnte man fast jederzeit am Tag betreten, ohne Aufsehen zu erregen. Insider bezeichneten die Abteilung im Museum gern als „Antikendienst“ ; derselbe Name, den früher einmal das „Supreme Council of Antiquities“ als Sammler und Bewahrer der Kunstschätze des Landes am gleichen Ort inne gehabt hatte.
Die Frau, die zuvor unter Meidung der Straßenunruhen durch die Gassen geeilt war, erreichte das Museum somit ebenso unauffällig wie unerkannt. Sie würdigte den eindrucksvollen Ausstellungsgegenständen keinen besonderen Blick und gelangte schließlich über eine schmale Treppe hinter einer Notausgangstür eine Etage tiefer.
Sie wurde erwartet, daher summte sofort der Türöffner, als sie im Spektrum der Videoüberwachung einer nicht beschrifteten Stahltür erschien und dort nur kurz die Gesichtsvermummung wegklappte. Sie stieß die Tür auf, trat geschwind ein und wandte sich nach zwei Metern an einer Kreuzung des Ganges nach links, während die Tür hinter ihr zufiel und ein dumpfes Klacken die besondere Sicherung verriet.
Das Büro, in dem sie sich am Ende des Ganges bei dem Mann, den man allgemein nur „Murad“ nannte, einfand, war wie die gesamte Abteilung im Keller des Gebäudes versteckt, fensterlos und karg eingerichtet. Ein Schreibtisch mit zahllosen Akten darauf, ein Sessel dahinter, zwei Besucherstühle und eine große Staatsflagge, an den Wänden die Fotos der gegenwärtigen Herrscher des Landes, soweit sie der Geheimdienst als legitim ansah – das war schon beinahe alles. Dazu gab es allerdings in einem Gestell an der Wand mehrere Monitore, welche tonlose Aufnahmen des Al-Tarhir-Platzes und einiger anderer markanter Orte Kairos aus Live-Bildern der Überwachungskameras zeigten. Auf zweien davon waren gerade Demonstrationen oder andere Unruhen im Gange, nach ein paar Minuten wurde auf einer Übertragung sogar heftig geschossen. Trotz Gebetsstunde!
Der Mann, der den Bildschirmen keine Blicke würdigte, war ein westlich gekleideter Araber, etwa Mitte bis Ende vierzig Jahre alt und wirkte charismatisch sowie nachdenklich zugleich. Er verfügte über jene gewisse Ausstrahlung, welche auch in einem überfüllten Raum sofortige Stille eintreten lässt, wenn er ihn betrat. Die Begrüßung zwischen ihm und der Frau war indes herzlich und besonders vertraut. Nur wenige wussten, dass er der gegenwärtige Leiter einer speziellen Abteilung des Geheimdienstes war, die sich mit der Verfolgung und Liquidierung von ägyptenfeindlichen Terroristen im europäischen Ausland beschäftigte.
Murad sprach die Frau mit einem unübersetzbaren, frivolen arabischen Kosewort an. Dann wechselte er jedoch schnell in die deutsche Sprache, welche die Frau muttersprachlich und er selbst ausgesprochen gut, jedoch mit deutlichem Akzent, aufgrund seines früheren langen Studiums in Heidelberg beherrschten. Dort hatten sie sich auch vor vielen Jahren kennengelernt. Sie war mindestens zehn Jahre jünger als er, damals vielleicht vierzehn oder fünfzehn gewesen und hatte mit ihm ihr „erstes Mal“ erlebt. Prägend, jedoch kurzlebig, waren sie nicht lange ein Paar geblieben, aber während sie der Faszination seiner Exotik und Erfahrung erlag, hatte er sie stetig und trickreich zu seiner „Todesspinne“ ausgebildet. Nach vielen Jahren war sie nun seine beste Agentin, wenn es darum ging, auf dem Gebiet der EU einen Auftrag zu erledigen. Dort gab es eine Vielzahl exilierter radikaler Zellen, vor allem auch in Deutschland. Nach ihrer letzten Aktion hatte er sie jedoch bereits eine ganze Weile nicht mehr dort eingesetzt, auch hatte es damit zu tun, dass die Unruhen in Ägypten die Auslandsaktivitäten des DMG beständig lähmten.
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