„Ich mein' ja nur. Komisch ist die ganze Geschichte jedenfalls. Find'ste nicht auch?“
Sid stieß sich vom Türrahmen ab, griff sich eine dünne Jacke und warf sie sich über. „Hol die anderen. Wir treffen uns in einer Stunde am Petri-Bunker. Schauen wir uns diesen Kerl mal genauer an!“
Der Petri-Bunker war einer der größten Hochbunker, der Anfang des Krieges in der Innenstadt erbaut worden war. Damals hatte man den Bau belächelt und sich gefragt, warum man den brauchte, wenn Göring doch so sicher war, dass niemals ein alliiertes Flugzeug am deutschen Himmel auftauchen würde. Meier wolle er heißen, wenn das jemals passieren sollte. Jetzt hieß er Meier und der Bunker war zu einem zentralen Ort in der Innenstadt geworden. Viele alte Leute hielten sich hier ständig auf, aus Angst es bei einem der täglichen Bombenangriffe nicht rechtzeitig in Sicherheit zu schaffen.
Heinzl und Stulle waren zuerst da. Sie hatten die anderen Jungs der Edelweiß-Piraten, die momentan nicht in irgendwelchen Notdiensten eingebunden waren, durch ein kompliziertes Alarmierungssystem benachrichtigt. Fast alle kamen aus Ehrenfeld und waren mit den Jugendorganisationen der NSDAP in irgendeiner Weise aneinander geraten. Hatten Drill, Uniformen, antreten, marschieren, strammstehen, Fahnen grüßen und Sieg Heil brüllen abstoßend gefunden und sich den Erziehungsversuchen seitens der Partei zu entziehen versucht.
Vor dem Krieg waren sie mehr gewesen. Sie hatten Fahrten ins Umland von Köln gemacht, gezeltet, Lieder verbotener Jugendgruppen, der katholischen, bündischen Jugend gesungen und sich dabei frei gefühlt. Dazu hatten sie sich mit der HJ regelrechte Straßenschlachten geliefert und waren meistens Sieger geblieben. Was zu ihrem Ruhm maßgeblich beigetragen hatte.
In den letzten Jahren waren sie schließlich immer öfter ins Fadenkreuz der Gestapo geraten. Die Fahrten und Wanderungen waren bald unmöglich geworden. Als man anfing, sie an ihren alten Treffpunkten in den Parks und Grünanlagen der Stadt zu terrorisieren, worauf im vergangenen April sogar eine Razzia größeren Ausmaßes im Volksgarten gefolgt war, waren sie dazu übergegangen, ein halb illegales Leben in den Ruinen zu führen. Treffen wurden nur noch nach Absprachen organisiert.
Ein paar ältere Jungen hatten sich schließlich der Einberufung zur Wehrmacht oder zum Reichsarbeitsdienst entzogen und waren ganz untergetaucht.
Bei der Bevölkerung waren sie dank der Propaganda indes als Kleinkriminelle und asoziale Gauner verschrien. Das Denunziantentum als der effektivste Greifarm der Gestapo war dabei der schlimmste Feind. Sie hätten Kontakt zu geflohenen Fremdarbeitern, ließ die Gestapo verbreiten, zu Deserteuren der Wehrmacht, des Reichsarbeitsdienstes und zu Juden, zu Volksschädlingen und Drückebergern, wie sie es selbst schließlich seien. Einige Piraten waren daraufhin zunehmend militanter geworden und sprachen offen über Widerstand. Von Bombenanschlägen gegen verhasste Ortsgruppen-, HJ- und Gestapoleiter wurde viel geredet. Aber bis jetzt hatte man nur die Wände mit Spott-Parolen beschmiert, verlassene Wohnungen geplündert und hier und da kleinere Sabotageakte verübt, wenn sich die Chance dazu bot.
Die Jungen trafen sich zwischen zwei Häusern mit Blick auf die Zugänge zum Bunkervorplatz. Innerhalb einer halben Stunde waren alle vollzählig. Es war jetzt bereits fünf Uhr nachmittags. Zehn Jungen im Alter von 12-16 Jahren. Sid kam als Letzter. Er musste am Tag besonders auf der Hut sein. Vor allem, weil die HJ in der letzten Zeit besonders aktiv geworden waren.
Sie waren aufgeregt. Wenn Sid sie zusammen rief, erwartete sie immer einiges an Aufregung und Abenteuer.
Als Anführer trat er in ihre Mitte. Begrüßte jeden einzelnen mit Handschlag und Namen und erklärte dann den Grund für ihr Treffen.
„Passt auf, Kinder“, erklärte er in breitem Kölsch, „wir müssen heute ein kleines Rätsel lösen.“ Sid machte eine dramatische Pause und steigerte damit die Erwartungshaltung der Jungen. Er wusste, wie man das macht. Deshalb vergötterten sie ihn. „Also! An der Hohenzollern sitzt ein Landser, der behauptet mich zu kennen. Behauptet, ich sei sein Sohn.“
Die Jungen begannen überrascht zu tuscheln. Jeder wusste, dass Sid's Vater Kommunist und höchst wahrscheinlich tot war. Sid wartete, bis sich alle wieder beruhigt hatten und forderte dann Heinzl auf, von seiner Begegnung mit dem Soldaten zu erzählen. Die Jungen hörten gebannt zu, und als er geendet hatte, mutmaßten sie wild durcheinander.
„Der behauptet eine ganze Menge Blödsinn ...“, durchbrach Sid laut in das Durcheinander der Stimmen, „... aber irgendwie ist das, was der quatscht, seltsam. Halb richtig. Der ist nicht von der Gestapo. Da bin ich mir zu neunundneunzig Prozent sicher. Ich will mehr über den Typen wissen. Also werden wir uns jetzt auf den Weg machen, die ganze Umgebung rund um die Hohenzollern nach den Braunen absuchen. Dabei behalten wir den Kerl in dem ausgebrannten Lastwagen im Auge. Wenn der überhaupt noch da ist. Wenn einer was Verdächtiges sieht, kommt er zu mir. Achtet mir vor allem auf die kleinen braunen Eckensteher von der HJ. Ich schaue mich an der Brücke um. Aber immer schön langsam. Fallt nicht auf. In einer Stunde wieder hier. Ok?“
Die Jungs nickten und zogen sie los. Heinzl und Sid liefen die Rampe der Hohenzollern zum Brückenportal hinauf und setzten sich etwas geschützt hinter einen großen, abgesprengten Zementblock. Von hier aus hatten sie eine gute Sicht auf den Uferbereich.
Die Jungen begannen den gesamten Bereich nach den Braunhemden abzusuchen. Innerhalb einer Stunde war klar, dasd niemand außer ihnen die Uferstraße beobachtete. Der Landser jedenfalls lag seelenruhig in seinem LKW und schien zu schlafen.
Nach einer Stunde trafen sich wieder alle am Bunker. Erwartungsvolle Stille trat ein und die Augen der Jungen ruhten auf Sid. Der schaute in den Himmel und lehnte sich an eine Mauerwand. Seine Kiefermuskeln arbeiteten angestrengt, während er die Situation überdachte.
Was stimmte hier nicht? Was war das für ein Kerl? Lag da auf der Ladefläche und wartete. Und keine Nazis in Sicht, weit und breit. Was wollte der?
Sid blickte zum Himmel hinauf. Das war ihnen in der letzten Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Das Warnsystem für Luftangriffe funktionierte nicht mehr so gut wie in den Jahren zuvor. Angriffe konnten ständig ohne Vorwarnung beginnen. Das war Teil des Terrors der Alliierten. Die Jungen hatten sich angewöhnt zu horchen und den Himmel über sich nach Flugzeugen abzusuchen. Aber heute war irgendetwas verkehrt. Irgendetwas stimmte nicht. „Sagt mal Männer ...“, flüsterte er leise und schaute dabei weiter in den Himmel, „... ist euch aufgefallen, dass da oben gar keine Flugzeuge herumfliegen?“
Die anderen hoben wie ein Mann ihre Köpfe zum Himmel und suchten ihn ab.
„Das ist doch seltsam, oder?“, fuhr Sid fort, „Wir haben seit Monaten täglich Angriffe. Und heute? Kein Angriff. Und gestern auch nicht. Nicht eine Bombe. Und das bei dem Bomben-Wetter. Schon komisch, oder?“
Die Jungen wechselten erstaunte Blicke und bejahten.
Sid's Kiefermuskulatur arbeitete wieder. Keine Luftangriffe seit zwei Tagen, amerikanische Zigaretten, Karl und Frauke, ein Mann der behauptete sein Vater zu sein, wo doch jeder hier wusste ... Plötzlich war er sich sicher, dass er mit dem Mann sprechen musste.
„Ich geh' jetzt zu dem Kerl und red' mit ihm. Das ist 'ne große Sache. Ihr steht Schmiere.“
„Bist du verrückt, Sid?“, rief Heinz. „Wenn das eine Falle ist!“
„Das ist keine Falle. Werdet schon sehen. Ihr nehmt wieder eure Plätze ein. Wenn ihr was Komisches bemerkt: Doppelpfiff. Wenn Gefahr im Verzug: Langer anhaltender Pfiff. Ab dafür!“
Die Jungen nickten und zogen wieder los.
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