Um etwa vier Uhr morgens hatte Cyrus das Haus gefunden. Wie viele andere lag es etwas abseits der Straße und präsentierte sich mit einer schlichten neoklassizistischen Fassade, die, soweit Cyrus es erkennen konnte, nicht beschädigt war.
Langsam schritt er den schmiedeeisernen Zaun entlang, der das Anwesen umgab. Er versuchte sich ein Bild von der Lage zu machen. An der Rückseite entdeckte er einen Bombenkrater, der zu einer Hälfte die Straße und zur anderen ein breites Loch in den Zaun gerissen hatte. Irgendwer hatte versucht, es mit Resten umgefallener Bäume zu stopfen, was aber nicht wirklich gelungen war.
Genau gegenüber der Villa lagen drei Häuser oder besser zweieinhalb, da eines zur Hälfte zerstört war. Cyrus beschloss, sich in einem dieser Häuser vorläufig einzurichten, um die Hillers im Auge behalten zu können.
Schnell fand er einen Einstieg im zerstörten Mauerwerk und stieg lautlos die halb eingestürzte Freitreppe in das obere Stockwerk hinauf. Das Haus war, wie er es erwartete, verlassen. In einem Raum, der einmal als Schlafzimmer gedient hatte, setzte er sich in einen breiten, von feinem Mörtelstaub überzogenen Ohrensessel und blickte zwischen den im Wind leicht hin und her flatternden zerissenen Gardinen zum Portal der Villa herüber. Es war jetzt halb fünf und der Morgen graute bereits. In ein paar Stunden würde er wissen, ob die Hillers noch in Köln waren. So lange hieß es warten.
So stierte Cyrus mit leeren Augen auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Irgendwann begann sich sein Bewusstsein selbstständig zu machen während er starr und steif in dem alten Sessel saß.
Bilder flimmerten unscharf in seiner Erinnerung auf. Unscharfe Bilder aus der Zeit im französischen Untergrund, als er den einsamen Tod, den niemand mitbekommen hatte, gestorben war. Und Geräusche. Die eines nahenden Zuges. Der näher kam. Ein neues Bild, diesmal eindeutiger in seiner Erinnerung verankert. Er lag in Deckung in einem eilig ausgehobenen Splittergraben. Zusammen mit den Maquis hatte er die Schienenstränge so mit Dynamit unterlegt, dass man damit eine halbe Stadt in die Luft hätte jagen können. Ein Zug mit deutschen Soldaten samt Ausrüstung zu sprengen war ihr Ziel. Das hatte man ihnen gesagt. Der sollte kommen. Aber seine Informanten hatten sich getäuscht. Nicht der Zug mit den Soldaten war gekommen.
Cyrus schluckte schwer und vergrub sein Gesicht in den Händen. In seinem Kopf dröhnte es laut und er wusste, dass es der Zug war, der auf ihn zukam. Laut quietschend durchfuhr er eine Kurve. Unbeleuchtet und nicht besonders schnell. Wie der Schatten einer Schlange kroch er näher und näher. Und Cyrus spürte den kleinen Hebel der Sprengvorrichtung in seinen Händen, dazu diese leise, fiebrige Spannung und das seltsame Bedürfnis, die Hand zu drehen und es zu Ende zu bringen.
Im Sessel sitzend hörte er sich stöhnen. Er hatte es zu spät gesehen. Oder nicht? Wollte er nicht einfach den Zünder drehen. Obwohl etwas nicht gestimmt hatte?
„Nein! Nein!“, flüsterte er jetzt leise und biss sich auf die Unterlippe bis er den trockenen Geschmack von Blut spürte. Dann huschten Bilder an seinem inneren Auge vorbei, jetzt in klarer Deutlichkeit. Grauenvolle Bilder, die er sein ganzes Leben mit sich herumtragen würde. Darüber lag die Kakophonie des Chaos. Ohrenbetäubendes Quietschen, entmenschlichtes Brüllen und dann dieses hohe Kreischen ... viel zu hoch für Soldaten. Sein Brustkorb hob und senkte sich hyperventilierend. Dann starb Cyrus wieder, wie so oft in den letzten Monaten.
Von der Straße drang ein lautes Hupen und Cyrus wachte auf. Seine Glieder schmerzten. Besonders seine Brust. Ihm war kalt. Er riss sich zusammen und schaute aus dem Fenster. Vor der Villa stand ein dunkelblauer Chevrolet. Ein Mann war ausgestiegen und hatte sich lässig daran gelehnt, während er zum Haus der Hillers herüber schaute.
Dort wurde die große Tür des Hauptportals geöffnet und ein Mann in einer SA-Uniform erschien. Unter seinem Arm klemmte eine schwarze Aktentasche. In den Unterlagen, die man Cyrus gegeben hatte, war auch ein Bild von Heinrich Hiller gewesen. Aus einer Zeitung zu Anfang des Krieges. Er war sich sicher. Der Mann in der Uniform war der Bruder von Fritz Hiller. Heinrich Hiller, Chef der gleichnamigen Stahlwerke.
Die Straße war so ruhig das Cyrus hören konnte wie der Fahrer Hiller begrüßte.
„Morgen Herr Generaldirektor!“
„Morgen Schmidt!“, antwortete Hiller nur kurz und stieg in den Wagen. Der Fahrer klemmte sich hinter das Steuer, zog die Tür zu, startete und bald danach war das Auto verschwunden. Über die Straße senkte sicher wieder morgendliche Stille. Irgendwo zwitscherten Vögel.
Hiller schien von der Benzinrationierung ausgenommen zu sein, dachte Cyrus während er langsam etwas Hartgebäck aus seinem Rucksack kaute. Er fixierte seinen Blick auf die Mitte der Fassade und versuchte Bewegungen dahinter wahrzunehmen. Fensterläden wurden geöffnet und Cyrus erkannte Personen hinter den Gardinen. Er fragte sich, wer noch in in dem Haus war. Und wie viele davon von der Gestapo waren. Sein Empfangskommando sozusagen.
Etwa eine Stunde nach Heinrich Hiller öffnete sich die Tür ein zweites Mal und heraus kam eine Frau mit einem einfachen dunklen Kostüm. Mitte Vierzig, schlank mit roten Haaren. Begleitet wurde sie von einem Mann in einem blauen Anzug. Die Frau bog nach rechts ab, der Mann aber blieb einen Augenblick stehen und folgte ihr dann. Ein Aufpasser.
Wieder beobachtete Cyrus die Hausfassade. Irgendwann erschien eine dickliche Frau am Eingang, die einen Eimer Wasser auf die Stufen ausschüttete und wieder verschwand. Die Wirtschafterin. Dann tat sich für einige Stunden nichts, außer einiger weniger Passanten, die am Haus vorbeigingen.
Nur für kurze Momente verließ Cyrus seinen Beobachtungsposten. Dann ging er pinkeln und durchsuchte das Haus nach Trinkbarem. In dem halb eingefallenen Wohnzimmer entdeckte er in einem Wandschrank etwas Selterswasser und eine halbe Flasche Cognac. Er kämpfte kurz mit sich, griff dann aber nur zu der Flasche Wasser und kehrte in den ersten Stock zurück. Das Warten war ermüdend.
Cyrus fragte sich, ob es nicht besser wäre, einfach hinüber zu gehen, die Wirtschafterin zu überwältigen und dann auf die Hillers zu warten. Aber konnte er sicher gehen, dass im Haus nicht Gestapo wartete?
Am frühen Nachmittag kam die Frau, bei der es sich um Luise Hiller handeln musste, zurück. Diesmal ging der Aufpasser direkt neben ihr. Beide schienen zu flirten. Sie unterhielten sich lachend und der Mann ging schließlich davon, während Luise Hiller nach einem kurzen Winken das Haus betrat.
Wenn die Gestapo die Familie schon seit dem Verschwinden ihrer Tochter überwachte, war die Aufmerksamkeit wahrscheinlich nachlässig geworden. Morgens hielt man noch auf Abstand, nachmittags schlenderte man schon mit einem Pläuschchen zurück. Dann verschwand der Aufpasser ganz. Ein Fahrzeug, von dem aus man das Haus observierte, hatte Cyrus nicht entdecken können. Gab es gleich eine Ablösung? Nein. Nichts geschah. Ebenso wenig schien sich im Haus Gestapo zu befinden. Auch die hätten irgendwann eine Ablösung vornehmen müssen.
Gegen zwanzig Uhr kehrte auch Heinrich Hiller in seinem blauen Chevrolet zurück. Er stieg aus und schnell war er im Haus verschwunden.
Aus dem unteren Stockwerk drang Licht durch die Ritzen der Holzläden und Cyrus glaubte Musik zu hören. Die Straße versank wieder in Dunkelheit. Er wusste jetzt, was zu tun war. Er würde auf den nächsten Morgen warten.
Noch bevor am nächsten Morgen der Chevrolet kam, hockte Cyrus bereits hinter einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete die Szenerie. Alles spielte sich wie am Vortag ab. Deutsche funktionieren wie ein Uhrwerk, dachte Cyrus, als er das Auto des Generaldirektors am Ende der Straße verschwinden sah. Eine Stunde später erschien seine Frau. Diesmal ohne Begleitung. Die Gestapo war nachlässiger als er geglaubt hatte.
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