„Danke, Fräulein Grewe. Geben Sie mir Ihre Lagerleiterin. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“
„Danke Herr Obersturmführer. Ich danke Ihnen!“
„Ja, ja ...“, winkte Skorni ab. Dann plärrte die Lagerleiterin am anderen Ende in die Sprechmuschel. „Herr Obersturmführer?“
„Passen Sie auf, meine Liebe! Halten Sie das Mädchen noch für ein paar Wochen am Leben. Für den Fall, dass ich noch Fragen an sie habe. Danach können Sie weitermachen wie bisher.“
„Jawoll. Werden Sie nun von einer Dienstbeschwerde absehen?“
„Sie können mich mal am Arsch lecken, Gnädigste“, antwortete Skorni kurz und knallte den Hörer zufrieden auf die Gabel.
Etwas besser gelaunt sprang er auf und suchte nach Radke. Im Bereitschaftsraum fand er ihn. Er lag schnarchend auf einer Pritsche. Über ihm eine graue Wolldecke.
„Radke! Aufstehen. Wir schauen uns ein bisschen die Touristenziele dieser Stadt an!“
Radke war nicht begeistert.
Eine halbe Stunde später waren sie am Hindenburgpark, der den Namen allerdings nicht verdiente. Der Park war eher einer Brache. Nichts weiter als aufgerissene Erde und verkohlte, umgestürzte Bäume. Zu entdecken gab es hier nichts, nur zerfetztes Grün.
Nach wie vor war Skorni entsetzt über das Ausmaß der Zerstörung. Er hatte in vielen Städten Europas Jagd auf Juden gemacht, die in die Illegalität gegangen waren. Aber das waren intakte Städte gewesen. Mit Menschen und Strukturen, die man nutzen konnte. Hier war alles anders. Fast fühlte er sich wie ein Jäger in einer kahlen Bergwelt aus Trümmern, Schutt, Bombentrichtern, die wie kleine Seen das Stadtgebiet sprenkelten. Er hatte sich in der letzten Zeit gefragt, ob er seine Ermittlungsarbeit nicht auf die neuen örtlichen Gegebenheiten im Reich umstellen musste. Die Jagd hier hatte etwas Archaisches. Zudem hatte er noch nie etwas so nebulöses wie diese Jugendgruppen gejagt, die in keiner Form organisiert zu sein schienen und Spontanität wohl zu ihrer ersten Tugend gemacht hatten. Mit Widerstand hatte das wohl nichts zu tun, eher mit Trotz.
Sie schlenderten ein wenig herum und fuhren anschließend in die Innenstadt. Radke parkte den Wagen auf Skornis Befehl am Bahnhof. Den Rest des Weges hinunter zum Rhein bis zur Hohenzollernbrücke gingen sie zu Fuß.
Die Uferstraße war erstaunlich gut geräumt und entgegen den meisten anderen Straßen und Plätzen in der Stadt belebt. Menschen liefen das Ufer entlang, standen zusammen und unterhielten sich. Eine Szene wie im Frieden, wenn die Trümmer und die elenden Baumskelette nicht gewesen wären, die überall herumstanden und Skorni die Ödnis des Krieges wieder ins Gedächtnis riefen. Zur Stadt hin erhoben sich Schuttberge. Davor immer wieder Wracks ausgebrannter Autos, Lastwagen und Pferdefuhrwerke. Auf der Ladefläche eines dieser LKW-Wracks saß ein Soldat, der sich mit einem Jungen unterhielt. Weiter hinten exerzierten SA-Männer mit lautstark gebrüllten Kommandos. Mädchen mit Zöpfen spielten hüpfend und singend Himmel und Hölle . Alte Männer lasen auf Bruchsteinen sitzend die Zeitung.
Skorni wandte sich traurig mit der Gewissheit ab, ein bisschen Frieden gesehen zu haben. Dann begann er, mit Radke die nähere Umgebung abzusuchen. Schnell entdeckten sie, was sie suchten. Tatsächlich fanden sie unter der Hohenzollern-Brücke, die noch intakt war, einen Haufen Zigarettenstummel und viele durcheinander versetzte Fußabdrücke. Das war vielversprechend. Hier hatten sich eine Menge Leute länger aufgehalten. Hoffentlich nicht nur Schwarzhändler. Aber die hatten andere Orte, wie er von Manthey erfahren hatte. Heute Abend würden sie sich hier mal genauer umschauen und hoffentlich Glück haben.
Am Rhein entlang gingen sie bis zur NSDAP-Parteizentrale, die ganz in der Nähe lag und machten den diensthabenden SA-Führer ausfindig, dem sie befahlen, sich heute Abend mit einer Rotte seiner Männer für eine Razzia bereitzuhalten.
Anschließend kehrten Skorni und Radke ins EL-DE-Haus in der Elisenstraße zurück, wo sie bereits von einem aufgeregten Kommissar Manthey erwartet wurden.
„Wir haben da jemanden, der Ihnen etwas Interessantes zu erzählen hat“, rief der ihnen zu und brachte sie in sein Büro im ersten Stock.
Nachdem Cyrus sich von Luise Hiller verabschiedet hatte, ging er zurück Richtung Innenstadt. An einem Wasserwagen in der Nähe des völlig zerstörten Bahnhofs stellte er sich in einer Schlange an und füllte seine Feldflaschen. Anschließend tauschte er bei blondzöpfigen BDM-Mädchen eine Urlaubs-Essensmarke gegen ein Schinkenbrot. Nicht weit von einem Bunker entfernt setzte er sich auf einen Steinpoller und aß. Eine Streife älterer HJ-Jungen kontrollierte seine Papiere. Routine. Vorläufig. Ein paar Minuten nachdem die HJ verschwunden war, stieg er zum Rheinufer hinunter.
Die Hohenzollernbrücke lag zwischen zwei neoromanischen Portalen, die sich wie mittelalterliche Burgtürme in den Himmel streckten. Die Bomben hatten sie bis jetzt verfehlt. Vielleicht war das ja auch Absicht gewesen. Man brauchte sie noch für den Vormarsch. Cyrus kletterte vorsichtig über verbogene Eisenbahnschienen und schaute die Rheinpromenade entlang. Verstreut lagen ausgebrannte Fahrzeuge zwischen kreisrunden Schuttbergen und abgebrannten Bäumen. Weiter stromaufwärts dümpelten halb versunkene Lastkähne an kaputten Stegen im Fluss.
Trotz allem war die Promenade eine weithin überschaubare aufgeräumte Fläche, und Cyrus fragte sich, wo sich diese Piraten von denen Luise Hiller gesprochen hatte, wohl trafen. Er setzte sich auf die Ladefläche eines komplett ausgeschlachteten LKW's, zog eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Niemand beachtete ihn. In seinem Wehrmachtsmantel und mit seinem Rucksack sah er aus wie einer der vielen Soldaten, die im Durcheinander der Stadt umherirrten und nach ihren Familien suchten. Sogar ein Trupp exerzierender SA-Männer nahm keine Notiz von ihm. Also beschloss Cyrus einfach sitzen zu bleiben und zu beobachten.
*
„Wen suchen Sie, Soldat?“
Ein Junge, etwa 12 Jahre alt, hatte sich vor der Ladefläche aufgebaut und schaute Cyrus aus leicht hervor quellenden blauen Augen an. Die Hand hatte er im militärischen Gruß lässig an die Stirn gelegt, während sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzogen hatte. Cyrus schaute ihn gelangweilt an, zog noch einmal an seiner Zigarette und schlug sich herunter gefallene Asche vom Mantel.
„Ich suche meine Familie!“
„Wo ham die denn gewohnt?“ Der Junge sprach kölnischen Dialekt und Cyrus musste sich anstrengen, ihn zu verstehen.
„In Ehrenfeld! Mechternstraße!“, log er.
„Und warum suchen Sie dann hier?“
„Das Haus steht nicht mehr und ich weiß nicht, wo ich nach ihnen suchen soll, Junge.“
„Na, in der Vermisstenstelle der Ortsgruppe.“
„Die wissen auch nicht wo sie sind.“
„Vielleicht bei Verwandten?“
„Möglich“, sagte Cyrus kurz und wäre diesen neugierigen Burschen gerne losgeworden. Er griff nach seinem Rucksack und wollte gerade gehen, als er am abgewetzten Hemdkragen des Jungen ein paar farbige Nadeln entdeckte. Einer dieser Piraten? Ihm kam da eine Idee.
„Vielleicht kannst du mir ja helfen!“
„Wie? Ich?“, fragte der Junge, dessen Augen flink hin und her huschten. Er schien ständig die nähere Umgebung im Auge zu behalten.
„Na ja. Mein Junge hat mir während meines letzten Fronturlaubs erzählt, dass er sich hier an der Brücke immer mit Freunden getroffen hat. Gibt's hier so einen Treffpunkt?“
Der Junge blickte ihn misstrauisch an und kniff die Augen zusammen.
„Nee. Nicht, dass ich wüsste.“
„Egal. War einen Versuch wert.“
„Haben Sie ´nen paar Kippen übrig?“
„Bist du nicht noch ein bisschen jung fürs Rauchen?“, fragte Cyrus und hielt dem Jungen seine Schachtel hin. Der blickte sich kurz nach allen Seiten um und griff zu.
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