„Na, die sind zum Handeln“, entgegnete der Junge empört. Cyrus hatte vergessen, dass Zigaretten mittlerweile in Deutschland so etwas wie eine Ersatzwährung geworden waren. Der Junge stierte gierig auf die Zigarettenpackung.
„Mann, das sind ja amerikanische. Wo haben se die denn her?“
„Von einem abgeschossenen Flieger. Lag tot auf einem Feld. Da habe ich sie her. Habe ihn gefilzt!“
Der Junge klaubte sich gleich drei aus der Schachtel und grinste Cyrus dabei an. Schnell verschwanden sie in seiner Hosentasche.
„Wie heißt denn Ihr Sohn?“
„Wilhelm Müller“, log Cyrus platt, „aber bei seinen Freunden heißt er nur Sid. Er hatte auch einen guten Freund. Der hieß ... warte mal ... Karl ... Karl Grewe. Und da war auch ein Mädchen. Frauke soundso, glaube ich. Vielleicht kennst du sie ja.“
„Nee. Aber ich kann mich ja mal umhören. Sind Sie noch länger hier?“
„Klar“, sagte Cyrus und legte sich auf der Ladefläche zurück, „bis heute Abend jedenfalls.“
„Danke für die Zigaretten!“, rief der Junge und rannte davon. Cyrus wusste instinktiv, dass er die Angel an der richtigen Stelle ausgeworfen hatte.
*
Der Junge fand das Zusammentreffen mit dem Soldaten äußerst seltsam. Heinz Wollmann, kurz Heinzl wegen seiner Größe, war öfters in der Innenstadt unterwegs und organisierte allerlei Sachen aus den Ruinen. Eigentlich war das Plündern und wurde hart bestraft. Aber Heinzl war flink und die HJ, diese Petzer, konnten ihn mal.
Besonders aber war Heinzl an Zigaretten interessiert. Zigaretten waren auf den Schwarzmärkten am Griechenmarkt oder in der Alexianerstraße ein wertvolles Tauschmittel. Vor allem amerikanische. Aber die waren selten. Dass dieser Soldat eben ihm ohne Nachfragen gerade solche geschenkt hatte, war an sich überraschend gewesen. Und dann noch die Frage nach Sid. Natürlich kannte Heinzl Sid. Jeder kannte Sid. Todesmutig, der Kerl. Der nahm es mit einer ganzen Schar dieser braunen Schießbudenfiguren von der HJ auf. Sid hatte vor aller Augen den Gestellungsbefehl zerrissen und beteuert, das er diesen Mist nicht mitmachen würde. Er ließe sich nicht verheizen und „Scheiß auf Hitler“ hatte er laut gerufen. Dabei die Hand zum Hitlergruß ausgestreckt. Er würde in den Untergrund gehen. Was er dann auch tatsächlich getan hatte.
Allerdings wusste Heinzl auch, das Sid in Wirklichkeit Hartmut Sieder hieß und nicht Wilhelm Müller. Definitiv. Außerdem war dessen Vater Kommunist gewesen und die Nazis hatten ihn schon zu Anfang des Krieges verhaftet und fortgebracht. Das war bekannt in Ehrenfeld. Aber die Sache mit Karl Grewe stimmte nun wiederum. Die beiden waren dicke Freunde gewesen. Karl, seine Schwester Stefani, Sid und diese hübsche Frauke Hiller, in die alle Jungen bei ihnen ein wenig verschossen waren. Die war irgendwie so 'ne richtige Dame. Kam aus besserem Hause. Die Eltern hatten Schotter ohne Ende. Aber das hatte man Frauke nicht angemerkt. Keine Allüren. Die war ziemlich in Ordnung gewesen.
Wie Karl! Ihr Freund. Der war dem Gestellungsbefehl gefolgt. Luftwaffe immerhin. Und auch Frauke war als Nachrichtenhelferin nach Borkum gegangen, weil ihre Eltern das so gewollt hatten. Damit sie von Karl und den Ehrenfeldern Edelweiß-Piraten wegkam. Das war für alle Jungs ein wirklicher Verlust gewesen, denn auch Heinzl war sich wie alle anderen sicher, dass es in Köln kein schöneres Mädchen gegeben hatte.
Er überquerte den Friesenplatz und trabte Richtung Ehrenfeld. Wie eine Gemse im Gebirge kletterte er durch die Trümmerwüste der Innenstadt. Kurz nach dem Grüngürtel, der die Altstadt umgab, erreichte er eine zerstörte Schuhfabrik, zog sich über eine halb eingestürzte Mauer, schaute sich kurz um und verschwand dann in der alten Fertigungshalle. In der hinteren Ecke führte eine Treppe in den Keller, der aber durch eine stabile Eisentür verschlossen war. Heinzl nahm einen Stein und schlug in einem bestimmten Rhythmus an die Tür.
Knarzend wurde sie geöffnet. Einen Spalt breit.
„Parole?“
„Stulle, du Idiot. Du brauchst mich nicht nach der Parole fragen, wenn du die Tür schon halb offen hast.“
Heinzl drückte mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür.
„Mann! Parole!“, rief der Junge, der jetzt vollständig zum Vorschein kam. Missmutig schaute er Heinzl an. Der verdrehte die Augen und suchte die Dunkelheit des Keller ab.
„Ach, halt die Klappe, Stulle. Ist Sid da?“, rief er über seine Schulter. Stulle drückte die schwere Eisentür wieder zu und verriegelte sie mit einem Holzbalken.
„Ja! Ist hinten in den Waschräumen.“
Heinzl ließ die Türwache stehen und platschte durch zahlreiche Pfützen einen langen dunklen Gang entlang. Am Ende lagen zwei ehemalige Waschräume. In einem stand ein kleiner kräftiger Bursche von etwa achtzehn Jahren mit dunklem Teint und machte sich an ein paar Kisten zu schaffen, die er gerade mit einem Brecheisen aufhebelte. Sid war ein Organisationstalent und anscheinend damit beschäftigt, das Beutegut der letzten Nacht zu sichten.
„Hey, Sid!“
„Hey, Heinzl. Na, was ist los da oben? Sind die Nazis raus aus Köln?“
„Nö, leider nicht“, antwortete Heinzl, setzte sich auf einen umgeworfenen Schrank, wartete einen Augenblick und sagte dann laut und deutlich:
„Ich wusste gar nicht, das du Wilhelm Müller heißt!“ Sid blieb ungerührt, schaute nur kurz auf und beschäftigte sich dann weiter mit dem Inhalt der Kisten.
„Heiß' ich auch nicht. Was soll der Quatsch?“
„Frage nur, weil da auf der Uferstraße nahe unserem Treffpunkt ein verlauster Landser sitzt, der behauptet, dass er aus Ehrenfeld stammt, seine Familie sucht und dass Sid sein Sohn ist.“
Sid legte das Brecheisen weg und schaute auf. Heinzl holte ein Zigarette aus seiner Brusttasche und zündete sie an. „Amerikanische! Hat der Kerl mir geschenkt.“
„Was wollte er genau wissen?“, fragte Sid, der hellhörig geworden war.
„Der wollte wissen, wo du steckst. Hat mich gefragt, ob sich bei der Brücke ab und zu Jugendliche treffen. Hätte ihm sein Sohn, Sid ... sein Sohn ... gesagt. Dann hat er mir die Zigaretten gegeben. Ich brauchte noch nicht mal fragen. Seltsam nicht?“
„Mit dem stimmt was nicht. Du hast ihm doch wohl nichts gesagt.“
„Nö, natürlich nicht. Bin ja nicht verrückt. Hab' erst einen ziemlichen Schrecken gekriegt. Dachte, der sei von der Gestapo. Ne neue Masche, um an uns 'ranzukommen. Aber dann hat er mir erzählt, dass du, also Sid, der beste Freund von Karl Grewe gewesen wärst. Da hab ich mich gefragt, woher er das weiß. Außerdem kannte er Frauke. Und Stefani.“
Sid stierte Heinz verdutzt an. Seine Kiefermuskeln arbeiteten. Das taten sie immer, wenn Sid überlegte. „Sonst noch was Komisches an dem Kerl?“
„Außer, dass er kein Kölsch konnte. Und er sprach irgendwie komisch, kann gar nicht sagen, wie. So wie einer spricht, der Kölsch nur nachmacht. Nicht besonders gut übrigens. Ziemlich verdächtig für einen aus Ehrenfeld. Er hat gesagt, wenn ich dich zufällig finden würde, wäre er noch bis heute Abend an der Brücke. Das war's.“
Sid ging mit gebeugten Kopf zur Tür und lehnte sich in den Türrahmen. „So lächerlich versucht die Gestapo sicherlich nicht, mich zu schnappen. Die haben genug mit anderen Deserteuren zu tun. Da machen die doch wegen mir nicht so einen Aufstand. Ist doch idiotisch.“
„Wer weiß! Vielleicht hat das was mit Karl und Frauke zu tun. Ich weiß ja nicht, was ihr da ausgeheckt habt, aber ...“
„Das braucht ihr auch nicht zu wissen“, sagte Sid scharf, „ist viel zu gefährlich. Es reicht, wenn ich da drinstecke. Hast' doch mitgekriegt, was mit Stefani und ihren Eltern passiert ist.“
Heinzl fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Die Sache mit den Grewes war wirklich erschreckend gewesen. Dass die Gestapo hier ab und zu Ärger machte, war nichts Neues. Aber dass sie eine ganze Familie mir nichts dir nichts abholte, das war noch nie vorgekommen. Für Sid war das besonders schlimm gewesen. Heinzl hatte immer das Gefühl gehabt, das zwischen ihm und Stefani Grewe etwas gelaufen war. Dann war sie einfach verschwunden. Und sein Hass auf die Nazis war größer geworden.
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