Platt hat viel geschafft, lebt selbst gut von seinem Geld, gibt aber auch gern ab. Er spendet für Schulen, Kindergärten und dafür, dass die innerstädtischen Grünanlagen stets mit den Blumen der Saison bepflanzt werden. Seit vorigem Schuljahr lernen die Kinder schon in der ersten Klasse das Prinzenstädter Lied, eine vor 110 Jahren entstandene Lobeshymne auf die Wirksamkeit der Medizin und die Schönheit der Stadt. Seinerzeit war es ein Auftragswerk des damaligen Fabrikanten. Lange war die sehr spezielle Ode später in Vergessenheit geraten. Doch nun wurde sie als Rheinsberger Folklore wiederentdeckt und wird in Ehren gehalten.
Achim Platt hat es geschafft. Er ist längst einer der wichtigsten Rheinsberger. Nur seine Frau kam ihm bei alledem abhanden. Sie brauchte keinen Ehemann, der in erster Linie mit seinem Unternehmen verheiratet ist. Yvonne Klatt lebt schon seit Jahren, von Achim finanziell bestens unterstützt, bei der gemeinsamen Tochter und deren Familie in Schleswig-Holstein.
Dass Achim Platt an diesem Abend durch den Schlosspark irrt, liegt daran, dass ihm irgendwann im Verlauf des Arbeitstages jemand ein Kuvert unter der Tür seines Vorzimmers durchgeschoben hatte. Die Sekretärin brachte ihm den Brief, auf dessen Umschlag lediglich sein Name stand. Er öffnete ihn. Jemand hatte sich als Dichter versucht. Auf dem Blatt Papier war in kerzengerader, enger Blockschrift zu lesen: „Der Bergner ist tot, auch Du bist bald in Not. Zahlst Du keine Million, ist alsbald Dein Lohn, dass die ganze Stadt lacht sich PLATT, weil eine von fünf Freundinnen dich jeden Abend mit Genuss auspeitschen muss.“ An die wenig gelungene Reimarbeit schloss sich Prosa an: „Wandele heute Nachmittag auf den Spuren der Historie. An einer der drei Pyramiden wirst Du erfahren, wo Du das Geld zu deponieren hast!“
An der Pyramide vor dem Schlosspark, die früher als Postmeilensäule diente und die größte ihrer Art im heutigen Brandenburg ist, hatte Platt trotz ausgiebigen Suchens nichts gefunden. Also versuchte er es an Prinz Heinrichs Grabpyramide im Schlosspark. Doch auch dort konnte er keinerlei Anweisung entdecken. Es blieb nur noch die mächtige Pyramide auf der schlossabgewandten Seite des Grienericksees übrig, dicht am Boberow-Forst gelegen. Prinz Heinrich hatte das weithin sichtbare Bauwerk einst errichten lassen, um die Gefallenen des Siebenjährigen Krieges zu ehren.
Die Erpressung nicht, und noch weniger den Mord, traut er der hübschen Janina Gutenberg zu. Andererseits kann es doch kaum ein Zufall sein, dass sie ihm vorhin im Park entgegenkam. Hatte sie kurz zuvor an der großen Pyramide eine Mitteilung deponiert? Schon heute Nacht wird er diese Frau wiedersehen. Sie wird ihm Schmerzen zufügen, weil er das so möchte. Und auch, weil sie es so will, es ihr Spaß bereitet und sie damit kein schlechtes Geld verdient.
Morgen will Platt die Polizei einschalten. Er ist kein Mann, der sich mit solchem Kinderkram erpressen lassen würde. Vielleicht gibt es an der zweiten Mitteilung, die er gleich finden wird, Spuren, mit denen die Ermittler arbeiten können. Seine Geschäfte würden kaum darunter zu leiden haben, dass er alle paar Tage das „Fünf Sterne“ besucht, beruhigt er sich. Man denke nur an die Eskapaden eines allseits bekannten TV-Talkers, die diesem nur kurzfristig schadeten. Längst ist er wieder zu alter Höchstform aufgelaufen.
Obwohl sich der Anrufer sehr bemüht hatte, seine Stimme zu verstellen, steht für Heiko Reimer fest, dass es ein Mann war. Kurz bevor der Reporter gegen 20.30 Uhr von der Redaktion in Neuruppin nach Hause fahren wollte, hatte es geklingelt. Immer wenn auf dem Display des Apparats „Rufnummer unterdrückt“ zu lesen ist, würde er am liebsten gleich wieder auflegen. Es gibt zu viele Spinner, die mit einem weitgehend sinnfreien Anruf lediglich Aufmerksamkeit erheischen wollen.
Angesichts des Toten am Morgen und der Münzen-Mail ein paar Stunden später legte Reimer nicht auf, obwohl der Anrufer für mehrere Sekunden überhaupt nichts sagte. Der Journalist hörte nur das angestrengte, etwas blechern klingende Atmen des Menschen am anderen Ende der Leitung. Die dann folgende verzerrte Mitteilung hatte der Anrufer offenbar vorher aufgezeichnet, denn auf Reimers Nachfrage antwortete er nicht. Es folgte lediglich ein Klacken. Das Telefonat war zwar kurz, doch sehr interessant. Der Fremde hatte gesagt: „Falls Sie mehr wissen wollen, fahren Sie zur alten Wassermühle in Köpersfelde. Tippen Sie am Tor die Kombination 4711 ein.“
Schon mehrfach hatte er gehört, dass es in einem kleinen Ortsteil der Stadt ein von fünf jungen Frauen betriebenes illegales Edelbordell geben soll. Allerdings wusste Reimer bisher nicht, wo es sich befindet. Köpersfelde könnte passen. Die alte Mühle, etwa zwei Kilometer vom eigentlichen Dorf entfernt, steht schon seit Jahren leer. Früher wurden dort Lehrlinge im Gastronomiegewerbe ausgebildet. Doch dann gab es wohl Probleme mit der weiteren Nutzung. Wenn er sich richtig erinnert, stritt sich eine weit verzweigte Erbengemeinschaft darum, wem das Gebäude gehört.
Als Heiko Reimer die am Ende eines schmalen Betonplatten-Fahrwegs gelegene Mühle erreicht, ist es kurz vor Mitternacht. Das Gebäude macht auf den Reporter nicht den Eindruck, als ob es in den vergangenen Jahren auch nur ansatzweise genutzt worden wäre. Heckenrosen haben sich auf dem gesamten Areal breit gemacht und ein dichtes Gestrüpp gebildet. Etliche Fenster sind eingeschlagen. Sprayer haben ihre Tags auf den Wänden platziert. Er kann kaum glauben, dass es am rostigen Tor ein elektronisches Zahlenschloss geben soll. Auf den ersten Blick findet er nichts, nur drei alte Briefkästen. Sie sind ebenfalls stark oxidiert und scheinen kurz vor dem Auseinanderfallen zu sein. Er öffnet die nur angelehnten Klappen und wird hinter der zweiten von ihnen fündig, Tatsächlich, ein Zahlenschloss. Nachdem er die Kölnisch-Wasser-Nummer eingetippt hat, öffnet sich das vergammelte Tor mit einem leisen Surren.
Schnell findet er den Weg durch die Hecken. Das liegt daran, dass nun vor ihm auf dem Betonboden Leuchtdioden zu blinken begonnen haben, die ihm den Weg zur Pforte weisen. Über der jetzt hell erleuchteten Eingangstür blinkt Reklame in Rosarot, die Silhouette einer liegenden unbekleideten Frau, die – eine Peitsche in der einen und ein Glas Sekt in der anderen Hand – den Gast sinnbildlich empfängt.
Reimer hat ein paar Fotos von dem gemacht, was er eben gesehen hat. Hineingehen wird er nicht. Das wäre zu gefährlich. Hinter dem Nobelpuff sollen, wie er gehört hat, mächtige Geldgeber stecken. Bei denen handelt es sich wahrscheinlich um Leute, denen es nichts ausmacht, eben mal einen kleinen Lokaljournalisten verschwinden zu lassen, falls ihnen ein solcher Schritt nötig erschiene.
Er geht langsam in Richtung des Tores zurück, das erstaunlicherweise noch immer geöffnet steht. Erst als er den Flügel von außen wieder ins Schloss fallen lässt, geht auch das Licht auf dem Gelände aus. Die Mühle scheint nun wieder schon vor langer Zeit verlassen worden zu sein.
Dass vom Gewimmel drinnen nichts nach außen dringt, kann sich Reimer nur damit erklären, dass es einen inneren, sehr gut schallisolierten Baukern gibt, der gänzlich ohne Licht von draußen auskommt. Die Autos von Personal und Besuchern stehen wahrscheinlich in den vom Tor aus nicht einsehbaren Garagen.
Der mehrfache Schrei eines Nachtvogels wirkt gespenstisch in dieser gottverlassenen Umgebung. Heiko Reimer will nur noch weg hier. Er fährt zurück nach Lindow. Noch ist er sich nicht sicher, was er mit seinem neuen Wissen machen wird. Es gehört jedenfalls nicht zu den Aufgaben eines guten Journalisten, die Polizei über einen lediglich zwielichtigen Sachverhalt zu informieren. Anders verhielte es sich, wenn es konkrete Anhaltspunkte für eine schwere Straftat gäbe. Doch es ist nicht so. Sicherlich wird dieses Etablissement betrieben, ohne dass der Staat daran Steuern verdient. Doch das ist für Reimer in erster Linie eine Sache der Finanzämter.
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