Ein paar Stunden später sieht sich der Experte die abgebildete Münze auf dem Schirm seines Rechners an. Wie so oft, wenn er nervös ist, zupft Wolf an einer seiner mittlerweile ergrauten Lockensträhnen, als er Reimer am Telefon mitteilt: „Nein, diese Münzen sind keinesfalls echt. Das Fredersdorf-Porträt geht ja noch, aber das Schloss auf der Rückseite ist eine Beleidigung für jeden auch nur halbwegs gebildeten Menschen.“ Ähnlich grässliche Machwerke habe er im Herbst beim Töpfermarkt gesehen. Einer der vielen Kunsthandwerker bot neben seinem aus Tassen, Kannen und Töpfen bestehenden Kerngeschäft auch Münzen an, was er nach Wolfs Ansicht tunlichst hätte bleiben lassen sollen. Der Schlosschef konnte sich allerdings nicht mehr daran erinnern, an welchem der 90 Stände auf dem Markt es die Prägungen mit den verhunzten Darstellungen zu kaufen gab.
Seit gut einem halben Jahr verdient Mandy Schönknecht ihren Lebensunterhalt als Bedienung im kleinen Rheinsberger Café „Pusteblume“. Es ist nicht ihr Traumjob. Doch für eine gewisse Zeit lässt es sich auf diese Weise ganz gut leben. Sie lernt viele Leute kennen. Später will die junge Frau wieder in ihrem Beruf als Grafikerin arbeiten. Nachdem sie ihre Stelle bei einer Berliner Werbeagentur verloren hatte, suchte sie anderthalb Jahre vergebens nach einem neuen Job. Es kriselt in der Branche.
Rheinsberg kannte sie noch aus ihrer Kindheit. Mit ihren Eltern hatte sie mehrfach die Ferien in einer seenahen Pension verbracht. Das war schön und viel ruhiger als das Leben in der Großstadt. Auch heute gefällt ihr die Stadt. Nicht wegen der Prinzen, schon eher wegen Kurt Tucholskys Bilderbuch für Verliebte, das im Städtchen handelt. Sie kann gut nachvollziehen, dass es dem jungen Paar aus der Großstadt bereits vor hundert Jahren in Rheinsberg gefiel. Sie liebt die Seen und Wälder und die Tatsache, dass der Ort auf eine sehr angenehme Weise entschleunigt wirkt. Dass das 21. Jahrhundert auch hier stattfindet, daran erinnern sie allenfalls die Jugendlichen, wenn sie in der Nähe der Schule nach dem Unterricht auf den Bus warten. Statt miteinander zu sprechen, tippen sie auf ihren Smartphones herum, grinsen Löcher in die Luft oder schauen beleidigt drein. Irgendeiner von den hunderten bis tausenden Freunden im einen oder anderen Sozialen Netzwerk hat wahrscheinlich gerade etwas überaus Nichtiges mitgeteilt, das die jungen User aber für absolut überlebenswichtig halten. Zum Beispiel, dass die Gina aus der Soap Sowieso heute wieder mal voll scheiße aussieht oder, dass man sich für die Proll-Tusse Tanja aus der Klasse x mit ihren hyper-outen Klamotten nur schämen kann.
Viel lieber als die zweifelhaften Vorzüge moderner Technik ist Mandy die Ruhe, die von den Droschken und Wagen vor dem Schlosspark ausgeht. Die Kutscher warten mit ihren Pferden darauf, dass Touristen bei ihnen eine Stadtrundfahrt kaufen. Kaufen, da ist sie dann doch wieder, die gewinnorientierte Gegenwart. Trotzdem kommt es ihr manchmal vor, als ob die Männer in ihren historischen Kostümen mit den geputzten Kutschen eigentlich im 19. Jahrhundert leben und es sie nur durch eine Krümmung im Raum-Zeit-Continuum in das Rheinsberg der Gegenwart verschlagen haben kann.
Bislang hat Mandy die Arbeit im Café vor allem Angenehmes gebracht. Die meisten Leute sind freundlich, weil sie hier Urlaub machen. Der Stress der Werbeagentur liegt längst weit hinter ihr. Künftig, in vielleicht einem Jahr oder später, darf es wieder anstrengender werden. Doch zurzeit genießt sie die märkische Gelassenheit. Nur heute ist sie alles andere als ruhig, denn sie hat gestern Abend etwas beobachtet, das ihr keine Ruhe lässt. An einem der kleinen runden Tische im Café saßen kurz vor der Geisterstunde zwei Männer mittleren Alters. Es war nicht Bernd Bergner, über den sie sich wunderte. Der sah wie immer aus, wenn er wieder einmal wegen einer seiner vielen Funktionen im Märkischen Anzeiger abgebildet war. Der Andere, ein fetter Typ mit Glatze, verhielt sich sonderbar. Dass der Mann eigentlich eine Platte hat, weiß sie nur, weil er schon etliche Male zuvor im Café gesessen hatte, stets in unterschiedlicher Begleitung, männlich wie weiblich. An diesem Abend aber hatte er sich eine Weißhaar-Perücke aufgesetzt und einen Schnurrbart angeklebt. Der ganze Mann wirkte dadurch höchst verunstaltet. Sonderbar war auch, dass er in der Kaffeetasse seines Gegenübers herumrührte, als dieser mal kurz auf dem Klo war.
Als sie heute Mittag durch einen Gast davon hörte, dass Bergner nicht mehr lebt, stand für sie fest, dass sie ihre Beobachtungen der Polizei mitteilen wird.
Anna Klettner war schon heute früh nicht davon ausgegangen, dass Bernd Bergner auf natürliche Weise ums Leben kam. Inzwischen haben sich die Anzeichen für einen Mord verstärkt. Als sie vorhin seiner Witwe Susanne die Nachricht vom Tod überbrachte, schien diese kaum von der unheilvollen Mitteilung berührt zu sein. Ihr Mann sei die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen, hatte sie der Kommissarin gesagt. Leider sei so etwas des öfteren bei ihm vorgekommen. Er habe das stets mit Überstunden auf der jeweiligen Baustelle begründet, seufzte sie. Doch dieser Anflug von Trauer und Ärger schien aufgesetzt. Die Ermittlerin glaubte Susanne nicht, versuchte aber, sich ihre Zweifel nicht anmerken zu lassen. Jedenfalls hatte sie sich umsonst Sorgen gemacht, dass der Tod des Ehemannes ein schwerer Schlag für Susanne Bergner sein könnte, von Trauma keine Spur.
Wenig später erreichte das Kommissariat die E-Mail mit dem Bild der angeblich so wertvollen Münzen. Lokalreporter Reimer hatte Klettner schon von Zweifeln Schlossdirektor Wolfs an der Echtheit der Geldstücke berichtet. Schließlich kam dann noch diese sympathische Serviererin, die ihrem Äußeren nach auch gut als Waldorf-Schülerin durchgegangen wäre. Sie hatte ihr von einem sehr dicken Mann erzählt, der gegen Mitternacht mit Bergner Kaffee getrunken habe. Sie sei bestimmt nicht besonders neugierig, hatte Mandy Schönknecht gleich zweimal betont. Doch es sei schon recht ungewöhnlich, dass ein Makler so kurz vor Mitternacht sich im Café mit einem Kaufinteressenten trifft. Dass der Dicke ein Makler sein muss, daran hatte die Zeugin überhaupt keine Zweifel. Er habe schon oft mit Kundschaft in ihrer Gaststätte gesessen. Doch sei das sonst niemals so spät und bestimmt nicht mit einer so lächerlichen Maskerade geschehen. Auch hätte der Dickwanst noch nie in der Tasse eines Kunden herumgerührt. Leider konnte die Serviererin keine genauen Angaben zu den Frauen und Männern machen, mit denen er sich bisher getroffen hatte.
Anna Klettner versucht, aus den Puzzleteilen ein Bild zu legen. Im Zentrum der Pinnwand in ihrem Büro prangt das Bild des Toten. Ein Obduktionsergebnis hat sie zwar noch nicht, doch Bergners Hausarzt hat seinem Patienten einen ziemlich guten Gesundheitszustand attestiert. Nur der Blutdruck sei ab und an etwas hoch gewesen. Folgerichtig kommt ein natürlicher Tod kaum noch in Frage. Auch Depressionen habe es bei Bergner nie gegeben, hatte sein Allgemeinmediziner gesagt. An einen Selbstmord hatte Klettner ja ohnehin nicht glauben wollen. Einen Suizid traut sie dem Mann, der mitten im Leben stand, nicht zu. Weshalb hätte er ohne Grund ein Gift einnehmen sollen, um dann auf der Straße, nicht einmal einen Kilometer von seiner Wohnung entfernt, zu sterben. Das ergibt alles keinen Sinn. Außerdem ist da noch diese mysteriöse E-Mail, in der ein Anonymus behauptet, dass die Münzen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Tod des Rheinsbergers stünden. So sehr sich die Kriminalistin auch bemüht, will aus den vielen Schnipseln noch kein plausibles Ganzes entstehen.
Pathologe Hannes Wüstenstedt hat die Untersuchung der Leiche des Rheinsbergers Bernd Bergner zwar noch nicht abgeschlossen. Doch er konnte Anna Klettner vorhin schon sagen, dass der Mann auf keinen Fall eines natürlichen Todes gestorben ist. Es sei bereits sicher, dass Bergners Herz bis zum Schluss vollkommen intakt war. In den letzten fünf bis sechs Stunden vor dem Tod, der erst kurz vor dem Auffinden eingetreten sei, habe Bergner starke Muskelkrämpfe gehabt. Dafür verantwortlich ist der Saft des Gefleckten Schierlings, der ihm gegen Mitternacht verabreicht worden sein müsse.
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