„Haben Sie Not mit Ihren Mietsleuten?“ fragte der Notar. „Oben in den Dachstuben wohnen freilich einige ärmere Leute.“
„Nein, mit denen geht’s“, sagte Herr Semmlein. „Der Schuster lässt sich wohl meinswegen manchmal ein wenig drücken, ehe er die landesübliche Münze herausgibt, aber die kleine Näherin, die Peters, zahlt auf die Minute. Morgens um acht Uhr an jedem Ersten klingelt sie mit dem Glockenschlage und bringt ihre paar Groschen – nein, die Part in der zweiten Etage, der alte Kommerzienrat, zahlt auch pünktlich, und von meinem neuen Mietsmanne, dem Oberstleutnant, weiß ich’s noch nicht, aber die vor ihm darin wohnten, die adlige Familie, der konnte ich meinswegen das Logis einlaufen, ehe ich die Miete kriegte. Aber was kann’s helfen! Also werde ich wohl in den sauren Apfel beißen und Herrn von Schaller mahnen müssen.“
„Wenn ich für Sie hineinbeiße“, lächelte der Notar, „wird er noch saurer.“
„Da haben S i e wieder Recht!“ nickte Herr Semmlein, indem er sich vom Stuhl erhob. „Na, nichts für Ungut, Herr Nachbar, werde die Sache noch einmal mit meiner besseren Hälfte – hahaha! – bereden, und es wird nachher wohl so herauskommen. Sie haben doch hier meinswegen eine prachtvolle Aussicht“, setzte er hinzu, als er in das Eckfenster hineintrat und den Blick umherwarf. „Bei mir drüben können Sie die Kaffeekannen auf dem Tische sehen, und die ganze Nachbarschaft, und meinswegen auch die hübschen Mädchen da oben“, bemerkte er mit einem halbverschmitzten Seitenblick auf den Notar, wonach er dann wieder zu Klingenbruchs hinaufsah. Dort, an dem offenen Fenster, stand eben Henriette und beschäftigte sich mit einem Blumenstock.
„Allerliebstes Kind“, fuhr der Hofapotheker fort. „Auch sehr ordentliche Leute, sehr anständige Familie – die Kleine dort ist aber meinswegen ein Prachtstück. Der Teint, die Augen und das Haar – sehn Sie nur einmal, wie hübsch sie den Stock festbindet und wie graziös!“
Püster sah hinauf und bemerkte ebenfalls, dass sie den Blumenstock mit einem ziemlich breiten und roten Band befestigte, was man doch eigentlich sonst nicht zu diesem Zweck benutzt.
„Ja, ein recht nettes Mädchen, aber nur...“ nickte er.
„Wird einmal eine famose Partie“, fügte Herr Semmlein hinzu und stieß den Notar dabei, indem er die Augenbrauen in die Höhe zog, mit seinem Ellbogen an.
„Meinen Sie?“ sagte Püster trocken.
„Wenn die Alte stirbt, die Mäusebrod“, flüsterte Herr Semmlein. „Heidenmäßig viel Geld, sage ich Ihnen, heidenmäßig viel Geld, Herr Notar, und die beiden Mädchen kriegen meinswegen alles, die Frau Oberstleutnant hat es schon meiner Frau erzählt.“
„Das wäre allerdings ein Glücksfall“, bemerkte der Notar. „Aber so viel ich weiß, ist jene Dame noch in den besten Jahren und kann vielleicht die jungen Damen, so jung sie auch sein mögen, überleben.“
Herr Semmlein sah sich vorsichtig im Zimmer um, als ob er einen Horcher befürchte, dann bog er sich zu dem Notar über und sagte leise: „Die nicht.“
„Die nicht?“ erwiderte Püster verwundert. „Und weshalb nicht?“
„Weil sie Opium nimmt“, versicherte der Apotheker. „Und alle Wochen zwei Flaschen Magenbitter braucht, und die Flaschen sind meinswegen ziemlich groß.“
„Opium?“ sagte kopfschüttelnd der Notar. „Unsinn – ohne ärztliches Rezept kann sie den ja gar nicht bekommen!“
Herr Semmlein zuckte mit den Achseln. „Einmal verschreibt ihr der Doktor etwas – denn vorgeschwatzt wird sie ihm genug haben, - und dann kann sie es sich auch meinswegen unter der Hand verschaffen; aber das sage ich Ihnen, Herr Notar, wer einmal richtig anfängt, Opium zu nehmen, der treibt es auch nicht mehr lange, und dann werden aus den jungen Backfischen da drüben meinswegen Goldfische. Doch ich muss wahrhaftig fort“, sagte er, und versuchte, sein kleines, inzwischen fast bis zur Größe eines Hühnereis zusammengedrehtes Käppchen wieder auseinander und in Form zu bringen. „Muss ja doch auch mit dem Ministerium meiner häuslichen Angelegenheiten die Rechnungssache in Ordnung bringen und überlegen – aber was ich Ihnen noch sagen wollte, Herr Nachbar, Sie kennen doch den Schreinermeister Handorf?“
„Gewiss“, erwiderte Püster. „Er arbeitet auch für mich und ist ein sehr braver und zuverlässiger Mann.“
„Sie wissen, dass er einen Sohn im Zuchthaus hatte?“
„Ja, allerdings, deshalb ging er auch immer so gedrückt einher, ich habe ihn eigentlich nie lachen sehen.“
„Der Sohn ist jetzt freigekommen und zurückgekehrt.“
„Lieber Gott, das wird auch ein schwerer Tag im Hause gewesen sein! Wenn man keine Kinder hat, bedauert man es manchmal, und wenn man sie hat, wie furchtbare Sorgen machen sie uns oft!“
„Der Junge hat noch als ganz junger Bursche einen Juden totgeschlagen und beraubt.“
„Ja, ich weiß es, er ist daraufhin verurteilt worden, aber er hat die Tat nie gestanden.“
„Soll er wohl nicht“, sagte Herr Semmlein. „Weil er wusste, dass er dann meinswegen gehenkt wurde. So ein junger Bösewicht – und die braven Eltern! Das ist auch ein angenehmer Zuwachs für Rhodenburg, und in dem letzten Monat haben wir außerdem drei Einbrüche gehabt.“
„Ich glaube nicht, dass wir etwas derartiges von dem jungen Handorf zu befürchten haben.“
„Wer weiß!“ sagte Herr Semmlein, sehr bedeutungsvoll mit den Achseln zuckend. „Wenn ich Stadtverordneter wäre, würde ich jedenfalls beantragen, ihn auf noch wenigstens zwei oder drei Jahre unter polizeiliche Aufsicht zu stellen.“
„Das ist ein gefährliches Experiment!“ sagte der Notar. „Und mag bei einem wirklich schlechten Menschen geboten erscheinen. Wer aber noch einen Funken von Ehrgefühl übrig behalten hat, den treiben sie dadurch vollkommen zur Verzweiflung. Man muss doch erst abwarten, wie er sich benimmt.“
„Die armen Eltern tun mir leid“, sagte Herr Semmlein. „Das sind so brave und durchaus rechtschaffene Leute – und jetzt den Jammer mit dem einzigen Sohn! Der Alte ging auch die ganzen Jahre wie vor den Kopf geschlagen herum. Ich bin nur neugierig, ob der Junge hier bleiben wird; wer soll ihn freilich in Arbeit nehmen – aber ich muss wahrhaftig nach Hause! Nein, wie die Zeit vergeht, da schlägt’s draußen schon meinswegen zwei Uhr! Also nichts für Ungut, Herr Nachbar – gesegnete Mahlzeit!“
Und damit verschwand der Hofapotheker wieder durch die Tür.
Püster trat ans Fenster und sah ihm nach, wie er über die Straße trippelte und drüben in die Apotheke fuhr, als seine Aufmerksamkeit durch einen lauten und wie zornigen Ausruf wieder dem Fenster seines Nachbars in der zweiten Etage links zugelenkt wurde. Er sah dort nur eben noch, wie der Direktor in seinem roten Schlafrock, die blaue Quaste seines Fez hinten ausfliegend, in der linken Hand die lange türkische Pfeife, in der Rechten jedoch den jetzt gezückten Dolche schwingend, ausrief: „Ha, so stirb, Verräter!“ Dabei sprang er aber in die Mitte der Stube hinein und entzog sich dadurch seinen Blicken.
Püster achtete aber nicht weiter auf ihn. „Rein verrückt!“ murmelte er nur leise vor sich hin und schritt dann, in tiefes Nachdenken versenkt, in seinem Zimmer auf und ab.
Beim Direktor.
Den Markt entlang schlenderte Hans von Solberg, selig in dem Gefühl, die altbekannten lieben Straßen wieder einmal zu durchwandern und die Spielplätze seiner Jugend aufzusuchen.
Da lag noch die alte Schule mit ihren hohen, dunklen, reich durch alte Steinarbeit verzierten Pforte und der enge Hof, der ihm früher freilich weit größer und geräumiger erschien; da stand noch der alte Brunnen, aus dem sie sich ihr Wasser mit einem schweren, aufrecht stehenden Schwengel hatten heraufpumpen müssen, und die trüben, mit Blei eingefassten Fenster schillerten noch wie damals in allen Regenbogenfarben.
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