Verändert hatte sich Rhodenburg überhaupt sehr wenig in den letzten zehn Jahren, trotzdem dass es mit in das Eisenbahnnetz hineingezogen worden. Es fehlten immer noch Schienenstränge, die es in den eigentlichen Verkehr brachten, es lag noch außerhalb der Weltstraßen und war deshalb nicht viel von Fremden aufgesucht worden, die allein ein anderes und regeres Leben hineinbringen konnten. Es ging seinen alten Schlendrian fort, aber die Leute befanden sich im Ganzen wohl dabei, weil sie eben nichts Besseres kannten und – verlangten.
In den engen Straßen wurde noch manchmal ein breiter Frachtwagen ab- oder aufgeladen, so dass er den Verkehr dort auf halbe Tage hindurch völlig unterbrach. Auf dem schmalen Trottoir stieß man noch manchmal, wenn man sich nicht vorsah, an einen dort bis in den Kopfbereich niederhängenden riesigen eisernen Haken, der zum Aufwinden in die Speicher benutzt wurde. Droschken gab es nur wenig in der Stadt; die überall vorgebauten, oft noch vergoldeten und geschnitzten Giebel gaben dem ganzen Ort aber etwas eigentümlich Heimisches, und Hans schwelgte in seinen Erinnerungen.
Gar so sonderbar kam es ihm dabei anfangs vor, dass er all die Menschengruppen, die er hier und da in den Straßen zusammenstehen sah, deutsch sprechen hörte. Dort drüben wurde ja nur spanisch gesprochen, auf dem Dampfer hatte er nur Englisch gehört und die kurze Eisenbahnfahrt dann wie im Fluge zurückgelegt. Jetzt aber war er plötzlich mit beiden Füßen zugleich in das alte, liebe deutsche Leben hineingesprungen.
Er ging auch wirklich halb wie in einem Träume umher, er sah nichts, als was ihn unmittelbar umgab, und konnte Viertelstunden lang neben ein paar alten Bauernweibern stehenbleiben, die sich in dem heimischen, so lange nicht gehörten Dialekt zankten und einander alle nur erdenklichen Schlechtigkeiten nachsagten. Ja, als sich ein paar Jungen auf der Straße prügelten und ein größerer einen kleinen überfiel, nahm er tatsächlich Partei für den schwächeren Teil.
Jetzt bog er in eine der Seitenstraßen ein, als ihm an der Ecke ein Offizier begegnete, der ihn, wie er zufällig den Blick auf ihn warf, scharf fixierte. Hans hatte gar nicht auf ihn geachtet und wohl ebenso wenig bemerkt, dass jener stehenblieb und ihm nachsah.
„Hans!“ hörte er da eine Stimme rufen und drehte rasch den Kopf danach um. „Bist du’s denn?“ rief der Hauptmann, der ihn noch immer ganz erstaunt ansah. „Hans Solberg!“
„Dürrbeck, beim ewigen Gott – Bernhard!“ rief Hans und sprang auf ihn zu, kaum dass er wenige Sekunden in das ihm erstaunt zugewandte Antlitz geschaut hatte. „Alter, lieber, lieber Freund, wie geht es dir und was treibst du?“
„Hans – aber bist du’s denn wirklich?“ rief Hauptmann von Dürrbeck noch immer im äußersten Erstaunen. „Mensch, wo kommst du her?“ Und die beiden jungen Leute schüttelten sich dabei herzlich die fest ineinander geschlossenen Hände.
„Aus Peru, Bernhard, direkt. Aber wie geht es dir – hast du ein bestimmtes Ziel?“ setzte er dann hinzu, indem er seinen Arm in den seines Freundes schob. „Komm, ich begleite dich, ich ziehe jetzt nur eben durch die verschiedenen Straßen und schwelge in alten Erinnerungen.“
„Ich hatte allerdings eine bestimmte Richtung“, sagte der Hauptmann, indem er den Arm des Freundes drückte. „Aber das kann auch noch bleiben. Jetzt gehen wir zusammen, suchen noch einmal unsere Tummelplätze auf und plaudern von vergangenen Zeiten. Aber dabei erzählst du mir, welcher glückliche Umstand dich zurückführte. Du glaubst nicht, Hans, wie ich mich freue, dich zu sehen und wieder hier zu haben!“
Die beiden jungen Leute schlenderten jetzt zusammen durch die Straßen der Stadt, und Hans musste dabei dem Freund erzählen, wie und wo er sich in der Zeit herumgetrieben und sich so wacker draußen in der Welt ohne fremde Beihilfe eine eigene Existenz gegründet hatte.
„Aber wie geht es dir, Bernhard?“ fragte Solberg endlich, als er dem Schulkameraden wenigstens die Umrisse seines bewegten und unruhigen Lebens mitgeteilt hatte.
„Gut, recht gut, Hans“, erwiderte dieser. „Wenn du mich auch freilich hier noch als Hauptmann siehst. Unser Avancement ist verzweifelt langsam, und ehe man Oberst wird, hat man gewöhnlich graue Haare. Das sind die Schattenseiten der hiesigen Tretmühle, die wir unser Leben nennen, und man muss sich eben hineinfinden, sonst aber Hans, bin ich jetzt der glücklichste Mensch, den es auf der Erde gibt, denn ich....“
„Bin verliebt!“ lachte Hans. „Hab ich’s erraten?“
„Auf den Kopf getroffen, und meine Braut ist ein Engel.“
„Das versteht sich von selbst“, nickte Hans. „Ich habe noch nie eine Braut gesehen, die nicht in den Augen ihres Bräutigams ein Engel gewesen wäre. Aber wie heißt sie? Kenn‘ ich sie?“
„Seit wann bist du zurück?“
„Seit vorgestern.“
„Nein, dann kannst du sie nicht kennen und – bist vielleicht auch nicht mit meiner Wahl einverstanden“, setzte er langsamer hinzu.
„Ich?“ rief Hans erstaunt. „Und weshalb nicht?“
„Sie ist nicht von Adel...“
„Bah, so viel für eure alten Geschlechter!“ rief der junge Mann. „Einige von ihnen sind so alt, dass es Not tut, sie von Grund auf zu restaurieren! Wie heißt sie?“
„Sie ist erste Sängerin am hiesigen Theater.“
„Alle Wetter! Aber ein braves Mädchen?“
„Ein tüchtiges, braves Mädchen“, bestätigte von Dürrbeck. „Die es einen schweren Kampf gekostet hat, ihre Kunst aufzugeben, bis die Liebe zu mir auch ihre letzten Zweifel hob. Hans, ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich mich fühle!“
Hans drückte ihm, ohne ein weiteres Wort, herzlich die Hand, und eine Zeitlang schritten die beiden jungen Leute, jeder nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nebeneinander hin.
Endlich sagte Hans: „Und ist der Tag eurer Verbindung schon bestimmt?“
„Das ist noch eine Unannehmlichkeit“, erwiderte Dürrbeck. „Die ich aber ebenfalls zu beseitigen hoffe. Sonst nämlich hebt bei allen Theatern Heirat jeden Kontrakt. Constanze aber, damals mit keiner Ahnung einer so baldigen Verbindung, hat hier auf zwei Jahre fest abgeschlossen und sich sogar die ganz außergewöhnliche Klausel gefallen lassen, dass sie in dieser Zeit, wenn sie sich verheiraten sollte, den Kontrakt bei einer sehr bedeutenden Konventionalstrafe einhalten wolle. Anderthalb Jahre kann ich aber doch nicht mehr warten!“
„Deine Geduld würde wenigstens in der Zeit auf eine arge Probe gestellt werden“, lachte Hans. „Doch lässt sich das nicht in Güte arrangieren? Vielleicht kann dir mein Vater dabei nützen.“
„Wohl schwer“, sagte der Hauptmann kopfschüttelnd. „Der alte Herr hängt so hartnäckig an seinem Vorurteil von unvermischten altadeligen Geschlechtern und hat mir selber schon so ernste Vorstellungen darüber gemacht und mich abgemahnt von einem solchen Verbrechen an meinen Ahnen, wie er es nennt, dass ich auf seine Unterstützung dabei wohl kaum rechnen kann. Ich würde nicht einmal wagen, ihn darum zu bitten.“
„Das wäre das Wenigste“, lachte Hans. „Aber wer hat hier beim Theater die entscheidende Stimme in dieser Angelegenheit?“
„Der hiesige Direktor.“
„Und hast du ihn schon deshalb gesprochen?“
„Aufrichtig gesagt, war ich eben auf dem Weg, als ich dich traf.“
„Dann begleite ich dich!“ rief Hans rasch. „Wir machen wenigstens den Versuch und sehen, wie die Sache steht. Wo wohnt er?“
„Hier gleich vor uns im Brink, Nr. 29 – es soll übrigens ein höchst origineller Kauz sein. Einige behaupten sogar, halb verrückt, der nur eben im Theater lebt und webt und keine Welt anerkennt, die nicht einen hölzernen Erdboden und auf Leinwand gemalte Bäume und Häuser hat. In der Stadt werden sogar die tollsten Geschichten von ihm erzählt – jedenfalls Übertreibungen – sonst gilt er aber für einen Ehrenmann.“
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