Abschließend wurde ein riesiges Transparent ausgebreitet, auf dem in schiefen, blutroten Buchstaben die Botschaft stand, die sie den Menschen in aller Welt übermitteln wollten. Ulf hatte ein wenig Mühe, das Geschmiere der schreibungewohnten Kuhhufe zu entziffern, doch schließlich las er, und er las es laut für alle: „ESST MEHR FISCH!“
Ulf lachte leise und schaute noch eine Weile zu, wie das Sonnenlicht rötlich durch seine geschlossenen Augenlider schien. Dann räkelte er sich genüsslich. Er war es gewohnt, bunte und lustige Träume zu haben, und diese Geschichte gefiel ihm. Dass er von Hannover geträumt hatte, war am Ende ganz in der Ordnung. Er würde sich über kurz oder lang sowieso mit der Stadt anfreunden müssen, da war ein Traum ein guter Anfang. Wenn ihm vor der Abreise noch Zeit blieb, würde er versuchen, ein Bild von dieser seltsamen Tier-Demonstration zu zeichnen, das wollte er ganz oben in seinen Koffer packen ... Doch jetzt: genug geschlafen.
Ulf schwang sich aus dem Bett und – erstarrte noch zwei Zentimeter bevor seine Füße den Boden berührten. Er stand im Wasser, in kaltem, trüben Flusswasser, das sich gleichmäßig über die Fliesen seines Zimmers verteilt hatte.
„Schon wieder“, stöhnte er.
Seine Pantoffeln, die neben der Lampe auf dem Nachttisch standen, zog er gar nicht erst an, sondern griff gleich zu den dunkelgrünen Gummistiefeln. Die passten zwar farblich nicht besonders gut zu seinem blauweißgestreiften Schlafanzug, aber dafür trugen sie ihn trockenen Fußes durch die erdige Suppe hinüber zur Küche. Vergessen der Traum von der kuhüberschwemmten Stadt am hohen Ufer. Das hier war die Wirklichkeit.
In der Küche bot sich ihm das gleiche Bild. Auch hier war das Wasser eingedrungen und stand nun zentimeterhoch auf den Fliesen. Die Eltern waren nicht da, nur Harraß, der Langhaardackel, lag auf dem Küchentisch und wedelte mit dem Schwanz. Ulf streichelte ihn ausgiebig, schob ihn dann aber energisch vom Tisch hinunter auf die Sitzbank, da hatte das Tier es trocken genug. Mit Mühe lockte er einen letzten Rest Kaffee aus der Kanne, füllte die Tasse mit Milch und Zucker auf und stürzte das Gebräu mit Todesverachtung hinunter. Ja, das hier war die Wirklichkeit. Starnsum, das kleine Dörfchen am zumeist freundlichen Flüsschen Glitta.
Ulf brauchte nicht aus dem Fenster zu schauen. Er wusste, wie es aussah, wenn die Glitta über die Ufer trat. Die Schokoladenkekse waren arg trocken heute morgen. Die herbstlichen Unwetter hatten aus dem gemächlich dahintreibenden Fluss wieder mal einen reißenden Strom gemacht. Wahrscheinlich hatte er auch wieder den einen oder anderen Baum entwurzelt, der später auf der Hauptstraße stranden würde. Und Hoffmeisters Schweinestall stand natürlich wieder völlig unter Wasser. Ulf kannte das. Seit nunmehr fünfzehn Jahren wurde Starnsum von der Glitta überflutet, und zwar circa achtmal pro Jahr. Am schlimmsten waren die Frühjahrshochwasser. Wenn sich der Regen mit der Schneeschmelze verbündete. Wenn es hieß, mit klammen Fingern Sandsäcke durch das eisige Wasser zu schleppen. Das mochte er gar nicht gern. Das Herbstwasser war weniger kalt, zumindest das. Es war wirklich zu ärgerlich, wie hart diese Schokoladenkekse waren. Er war nun neunzehn Jahre alt. Seine ersten vier Lebensjahre, so sagte man ihm, seien von Überschwemmungen weitgehend verschont gewesen. Gut, das eine oder andere Hochwasser hatte es natürlich immer gegeben, nur eben vereinzelt. Daran konnte er sich nicht erinnern. Nur an fünfzehn Jahre Wasser. Und an entsetzlich trockene Schokoladenkekse.
Ein Zappeln in der Ecke machte ihn aufmerksam. Irgendetwas rührte dort das Wasser auf und produzierte kurze, hektische Wellen. Harraß sprang auf den Tisch und knurrte. Er konnte sehr furchterregend knurren, und Ulf wusste, dass dies Geräusch bei dem Dackel alles andere als eine leere Drohgebärde war. Er brachte zuerst seine Tasse in Sicherheit, damit der wütende Hund sie nicht etwa im Eifer des Gefechts vom Tisch schmeißen konnte, und watete dann hinüber zu der Ecke, in der es noch immer zappelte und spritzte. Er konnte sich schon denken, was es war. Und er hatte sich nicht getäuscht. Es bereitete ihm keine große Mühe, die junge Regenbogenforelle aus der Mausefalle zu befreien. Sie war noch sehr klein und als Mittagessen so gut wie unbrauchbar. Daher warf er sie kurzerhand aus dem Fenster. Wenn sie der Seestraße folgte, würde sie ohne Probleme zum Fluss zurückfinden. „Esst mehr Fisch“, murmelte er. Dann schob er Harraß, sanft aber sehr nachdrücklich, wieder vom Tisch auf die Bank.
Später ging er mit dem Hund nach draußen, um die diesmaligen Schäden in Augenschein zu nehmen. Es hielt sich in Grenzen. Zwei Autos waren vollgelaufen und würden nicht mehr ohne weiteres anspringen. Und Hoffmeister hatte mal wieder ein Loch in die Stallwand schlagen müssen, aus dem das Wasser nur so heraussprudelte.
Ulf war etwas ärgerlich, wenn er daran dachte, wie die braven Starnsummer seit nunmehr fünfzehn Jahren von den Behörden regelrecht verarscht wurden. Anfangs hätte man die ganze Angelegenheit noch mit simplen 300.000 DM Baukosten aus der Welt schaffen können. Die entsetzliche Begradigung, die irgendsoein Dämlak von Schreibtischtäter verbockt hatte, wäre ohne Probleme zu beseitigen gewesen, ein kleiner Deich hätte ein Übriges getan ... Inzwischen beliefen sich die Kostenvoranschläge auf mehrere Millionen. Wann immer bei den zuständigen Stellen ein demütiges Bittgesuch eingereicht wurde, erfolgten Dorfbegehungen durch die verschiedenen Politiker (Starnsum hatte 83 wahlberechtigte Einwohner), es folgten Untersuchungen, Gutachten, Planfeststellungsverfahren, Pläne und Entwürfe, und dann nahm das ganze seinen Weg durch die Instanzen, bis es schließlich an den Glitta-Zweckverband zurückverwiesen wurde. Harraß knurrte leise. Im Glitta-Zweckverband aber saß der Herr Gemeindedirektor Vettermann. Der wohnte fünf Kilometer weiter flussabwärts, und solange sich die Glitta in Starnsum abreagierte, würden die hübschen Vorgartenzwerge des Herrn Vettermann keine nassen Füße kriegen. Und so würden wohl nächstes Jahr in Starnsum die ersten Häuser aufgegeben werden müssen. Wegen Vettermanns Gartenzwergen.
Ulf trat in eine Pfütze, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte. Bevor kein Stein ins Hildesheimer Rathaus flog, würde garantiert nichts geschehen. Aber wer hier sollte ihn werfen? In Starnsum lebten die liebsten Menschen auf der Welt, nur ihre Mentalität stammte leider noch aus der Zeit vor den Bauernkriegen. Es war, als stünde auf dem Ortsschild unter dem Namen Starnsum das Motto: „Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst.“
Vielleicht, wenn man einmal einen ganzen Tanklastzug voll Hochwasser nach Hannover schicken und den Kröpke unter Wasser setzen würde. Das stellte sich Ulf als eine sehr wirkungsvolle Demonstration vor. Aber selbst so etwas einfaches wie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit zwei Traktoren das alte Wehr von Harbardsum wegzureißen (was sicher die größte Erleichterung brächte), das täten die Starnsummer nie. Nun, er würde dann sowieso nicht mehr da sein. Aber ärgerlich war es schon.
„Hallo, Ulf!“
Ulf schaute auf. Vor ihm stand die kleine Jette und schwenkte eifrig eine leere Sammelbüchse, während sie mit der anderen Hand Harraß abwehrte, der immer wieder freudig an ihr hochsprang.
„Spendest du etwas, mir zuliebe?“
„Klar“, sagte Ulf und zückte sein Portemonnaie. „Für was sammelst du denn?“
Jettchen sah betreten auf die Stelle, an der ihre roten Gummistiefel im Wasser verschwanden. „Für die Überschwemmungsopfer in Köln“, sagte sie leise und fügte rasch hinzu: „Frau Hagen hat mich praktisch dazu gezwungen.“
Ulf steckte die Geldbörse wieder ein. „Sag deiner Lehrerin, die haben schon beim ersten Jahrhunderthochwasser genug Hilfsmaßnahmen gekriegt. Die sollen sich nicht so anstellen.“
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