Petra Hartmann
Geschichten aus Movenna
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Inhaltsverzeichnis
Titel Petra Hartmann Geschichten aus Movenna Dieses ebook wurde erstellt bei
Karte des Landes Movenna Karte des Landes Movenna
Erstes Buch: Das Buch der Könige Petra Hartmann Geschichten aus Movenna Dieses ebook wurde erstellt bei
König Surbolds Grab
Die Krone Eirikirs
Flarics Hexen
Das letzte Glied der Kette
Brief des Dichters Gulltong
Rimurics Kranich
Teil I: Der Kranich
Teil II: Die Rückkehr des Kranichs
Das Märchen von Yvalir
Zweites Buch: Das Buch der Nearith
Fandir von Venta
Strandleben – Sechs Gedichte Fandirs
Wildbesen
Der Turmbau zu Ira
Varelian
Drittes Buch: Das Buch der Götter
Föj lächelt
Ein Opfer für Weor
Ein teurer Tag in Ura
Impressum neobooks
„Und so fiel König Surbold in der Schlacht auf den singenden Feldern“, schloss Aeshna ihre Erzählung und bemühte sich, nicht auf das Lärmen der Krieger zu achten. Es war wichtig, dass die Enkelin die Geschichte König Surbolds kannte. Die wahre Geschichte. Nicht die, die Harvarts Krieger verbreiteten, wenn sie aus den Schenken gewankt kamen.
„So also war König Surbold“, murmelte Lournu versonnen. Sie schmiegte sich enger an die Großmutter, und beide blickten in das Lagerfeuer. Es war dunkel um sie, schon vor Stunden war die Sonne untergegangen, und Harvarts Krieger lärmten noch immer. Da war es gut, wenn man in die Flammen starren konnte und ein wenig Ruhe und Kraft sammeln für den weiten Weg, der noch vor ihnen lag.
„Na, alte Hexe, erzählst du der Kleinen eine Gute-Nacht-Geschichte?“ Harvart, der an allen Feuern des Lagers einige Minuten verweilt hatte, war zu den beiden Frauen getreten.
Lournu wusste, dass Aeshna den fremden König nicht leiden konnte, und schob die Unterlippe trotzig vor. „Großmutter hat mir von König Surbold erzählt. Das war ein mächtiger König und immer gut und freundlich. Er hat in den alten Zeiten geherrscht, lange bevor deine Leute nach Movenna gekommen sind und alles zerstört haben.“
Harvarts Hand fuhr zum Schwert, doch der Blick der alten Aeshna ließ ihn zurückschrecken. Lächelnd streichelte er dem Mädchen über das Haar. „Aber deine Großmutter hat dir sicher nichts von König Surbolds Grab erzählt, nicht wahr?“ Lournu schüttelte den Kopf, und ohne sich um die wütenden Blicke Aeshnas zu scheren, ließ sich der König am Feuer nieder und zog den Mantel enger um sich. „Dann werde ich dir davon erzählen“, sagte er ruhig. „Denn warum sollte jeder hier im Lager unser Ziel kennen, nur unsere süße kleine Geisel nicht.“ Er schwieg eine Weile und kostete die Wut der beiden Frauen genussvoll aus. Endlich begann er mit der sanften Stimme eines Märchenerzählers:
„Als König Surbold gestorben war, da hoben ihn seine Mannen auf vom Schlachtfeld und setzten ihn auf sein Pferd. Bis in das Tal der tanzenden Schatten, das weit im Norden Movennas in den Bergen der eisigen Einsamkeit liegt, brachten sie seinen Leichnam und schufen ihm dort ein Grab, wie es die Menschheit bis dahin noch nicht gesehen hatte und wie es auch auf Erden kein zweites Mal errichtet werden wird, so hoch und groß war dieses Hünengrab des Königs Surbold. Allein der Felsen, der oben auf dem Grabhügel liegt, ist so groß, dass weit über einhundert Schafe darauf stehen können. Und ganz oben auf dem Felsen ist eine Inschrift eingegraben. Weißt du wohl, wie die lautet?“
Verwundert schüttelte Lournu den Kopf.
„Und du, Alte?“
Aeshna biss sich wütend auf die Lippen und sagte keinen Ton.
„Ich will es dir verraten, meine Kleine“, fuhr Harvart aufgeräumt fort und schnalzte mit der Zunge. „Da steht geschrieben: ‚Wunner äwer Wunner - wat leit woll dar unner‘. Wunder über Wunder, was liegt wohl darunter. Das steht darauf.“
„Und was liegt darunter?“, fragte Lournu gespannt.
„Das weiß niemand. Viele hundert Männer haben schon versucht, den Stein zu heben. Aber der schwere Fels auf König Surbolds Grab widerstand all ihren Versuchen und rührte sich nicht von der Stelle. Und so hat bis heute noch niemand herausgebracht, was dort liegt unter dem gewaltigen Grabstein im Tal der tanzenden Schatten.“
„Jeder weiß es“, grölte ein vierschrötiger Kerl am Nachbarfeuer. Jorn, Harvarts erster Krieger, stand auf und kam zu ihnen herüber gestapft. „Jeder weiß, was dort vergraben liegt. Was kann dort anderes liegen als der Schatz des alten Surbold, hä? Sag mir das mal.“
Harvart lächelte flüchtig über den Eifer seines Heerführers. „Es ist wahr“, nickte er dann Lournu zu. „Was kann dort anderes liegen als der märchenhafte Reichtum des alten Königs. Gold und Silber in Fülle soll er besessen haben, dazu Diamanten und Perlen und Schmuck. Möchtest du nicht auch einen solchen Schatz haben, kleine Lournu?“ Lournu schob die Unterlippe noch weiter vor. „Ich jedenfalls träume schon seit meiner Kindheit davon“, gestand Harvart. „Und wenn ich ehrlich sein soll: Nur deswegen bin ich in euer Land eingefallen.“
Lournu lachte. „Na, König, das ist aber wirklich dumm. Wie willst du denn den Stein hochheben, wenn er tatsächlich so schwer ist, wie du sagst?“
Der König grinste und sah zu Aeshna hinüber. „Ihn zu heben wird Aufgabe deiner Großmutter sein. Denn wo rohe Gewalt versagt, muss eben die Magie ran.“
Aeshna schüttelte traurig den Kopf. „Ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass ich nichts von Magie verstehe. Dass du das nicht einsehen willst.“
„Ich habe deine Taten gesehen, alte Frau“, widersprach der König. „Wie du die Pfeile in der Schlacht in Rauch aufgehen lassen hast. Wie du die Kranken geheilt und das tote Kind wieder zum Leben erweckt hast. Wie konntest du das tun, wenn du, wie du sagst, nichts von Magie verstehst?“
Aeshna starrte in die Flammen und antwortete nicht. Erst nach einer Weile murmelte sie, mehr zu sich selbst als an den König gerichtet: „Vielleicht versteht ja die Magie ein wenig von mir ...“
„Großmutter wird den Stein heben, den keine Macht heben kann“, sagte Lournu überzeugt. „Und dann wird sie ihn auf dich drauf fallen lassen, dass du ganz zermatscht wirst. Das hast du dann davon.“
Harvart fuhr erschrocken zurück, doch gewann er seine Überlegenheit sofort wieder. Mit bösem Grinsen zischte er: „Und genau darum habe ich dich mitgenommen, du kleine Ratte. In jedem Augenblick sind zwanzig Pfeile auf dich angelegt, und wenn deine Alte nicht spurt, dann ...“ Er machte eine vielsagende Pause, und auch Lournu schwieg betroffen.
„Ich denke, es ist besser, wenn du uns nun schlafen lässt“, stellte Aeshna ruhig fest. „Es ist noch ein weiter Weg, und du willst sicher nicht, dass die Kleine unterwegs schlappmacht und deinen ganzen schönen Marsch verzögert.“
Harvart erhob sich vom Feuer. „Du hast Recht. Ich möchte sowieso noch ein wenig mit dem Techniker plaudern.“ Er nickte hinüber zu dem kleinen schmächtigen Mann am Nachbarfeuer, der sich seltsam fremdartig zwischen all den muskelbepackten Riesen ausnahm. „Wer wird sich schließlich allein auf Hexen verlassen, wenn es um Schätze geht.“ Er und Jorn stapften davon, während sich die beiden Frauen zum Schlafen niederlegten.
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