„Glaubst du an einen Schatz in Surbolds Grab?“, flüsterte Lournu leise.
„Vielleicht“, murmelte Aeshna. „Eine Sage hat immer einen wahren Kern. Nur ob der Schatz Harvart gefallen wird, da bin ich mir gar nicht so sicher.“
*
Lournu schlief tief und fest in dieser und in allen darauffolgenden Nächten. Sie bewegte sich mit der unbekümmerten Sorglosigkeit eines Kindes zwischen den Soldaten Harvarts, ließ ihr Pony bald neben dem einen, bald neben dem anderen Ritter her traben und wusste sogar mit dem finsteren Jorn ungezwungene Gespräche anzuknüpfen. Aeshna sah es nicht ohne Sorge. Zum wiederholten Male fragte sie sich, ob die Kleine nicht zu sehr auf die Kunst ihrer Großmutter vertraute. Denn es stimmte schon, was Harvart gesagt hatte: Die Soldaten ließen Lournu nicht aus den Augen, und ununterbrochen hatten die Bogenschützen auf sie angelegt.
Aeshna hätte mit den Kriegern spielend fertig werden können. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn mit der Magie war das so eine Sache. Man wusste vorher nie ganz genau, was passieren würde. Harvart würde das niemals begreifen. Lournu vielleicht. Später einmal. Wenn sie nicht vorher erschossen wurde.
Aeshna seufzte. Der Weg durch die eisigen Einöden war auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen. Mit Genugtuung stellte sie fest, wie heruntergekommen das ehemals so stolze, schmucke Heer des fremden Königs aussah. Nein, es waren nicht bloß der Frost und der eisige Wind, die hier an den Nerven der Soldaten zerrten. Es war die Eiswüste selbst. Sogar die Leute aus Movenna durchquerten das Eisland nie ohne eine gewisse Scheu und waren dankbar, wenn sie unversehrt an Leib und Seele wieder heraus kamen. Denn in der ewigen Einsamkeit des Eises, unter dem ewig weißen Himmel mit dem ewig gleichen, einförmigen Horizont, gab es nichts als das Nichts. Nur noch das Nichts, dem schon der Einzelne nicht ohne weiteres gegenüber zu treten wagte. Um wie viel weniger diese riesige Armee. Wenn die Philosophen und Magier Movennas sich am Ende ihrer Ausbildung einige Wochen in das weiße Nichts zurückzogen, dann war dies trotz jahrelanger Vorbereitung immer noch eine höchst gefährliche Angelegenheit, und es kam immer wieder vor, dass jemand nicht zurückkehrte aus dem Nichts. Der tanzte nun wohl als Schatten mit den Geistern der Ahnen in Surbolds Tal um den Felsen des Königs.
Aeshna sah besorgt zu Lournu hinüber. Sie hatte versucht, die Enkelin auf die Eiswüste vorzubereiten. Hatte versucht zu erklären, dass alle Wesen und Geister in der Wüste den Bewohnern Movennas freundlich gesonnen waren. Und auch, dass man sich mit dem Nichts befreunden musste, um es zu überleben.
Viele von Harvarts Kriegern hatten es nicht verstanden, mit der eisigen Einöde umzugehen. Wie sollten sie auch, dachte Aeshna grimmig. Die meisten waren Söldner, nachgeborene Bauernsöhne zumeist, ausgesetzte Waisen die anderen. Gestrandete, auf deren Ausbildung niemand auch nur die geringste Mühe verwandt hatte. Gib ihnen ein Schwert in die Hand und jage sie in die Schlacht. Kehren sie lebendig zurück, so hast du erfahrene Soldaten, und du kannst sie in die nächste Schlacht schicken. Kehren sie nicht zurück, hast du wenigstens den Sold gespart und kannst dir neue damit kaufen. Aeshna schüttelte den Kopf. Es war kein Wunder, wenn diese Menschen in der Eiswüste durchdrehten. Eben erst war wieder einer von ihnen in irrsinniges, tierhaftes Geschrei ausgebrochen, war vom Pferd gesprungen und in wahnwitzigem Lachen davon gestürzt, und sie fanden ihn nicht mehr wieder. Und Lournu?
Aeshna lenkte ihr Pferd näher an die Kleine heran und hörte zu, wie das Mädchen fröhlich auf den finster vor sich hinbrütenden Jorn einschwatzte. War es Bosheit, dass das Mädchen die Nerven des bis aufs Äußerste gereizten Kriegers mit Erzählungen aus den heiteren Tagen Movennas malträtierte? Aeshna glaubte es fast.
„König Surbold war ein fröhlicher Mann“, plauderte Lournu munter und schlenkerte mit den Beinen unaufhörlich an der Seite ihres Ponys hin und her. „Seine Regierungszeit wird auch als das lachende Zeitalter Movennas bezeichnet. Kein Tag ging ins Land, an dem es nicht wenigstens einmal ein Gelächter gab, das selbst die Berge der eisigen Einsamkeit erschütterte. Solch ein König war König Surbold.“
Jorn lachte böse. „Und das macht also deiner Meinung nach einen großen König aus, ja?“
„Man erinnert sich an ihn“, stellte Lournu einfach fest. „Was ist schon ein König ohne Humor. Deinen lächerlichen Schattenkönig habe ich noch niemals lachen sehen. Und darum wird er eher vergessen sein, als du vielleicht glaubst.“
„Ach wirklich, ist das so?“ Harvart hatte die unangenehme Angewohnheit, sich besonders leise von hinten zu nähern. Er hatte die letzten Worte des Mädchens mit angehört und trieb nun seinen Hengst drohend an das Pony heran.
Doch Lournu ließ sich nicht einschüchtern von seinem finsteren Blick. „Sicher“, sagte sie. „Ein König, der keinen Sinn für Humor hat, ist es nicht wert, dass man sich seiner erinnert.“
„Wenn ich erst mit deinem Land fertig bin, wird sich garantiert niemand mehr an deine großartigen Könige erinnern“, drohte er.
Lournu lachte hell auf, und dann sang sie die Kette der alten Könige hinunter, wie Aeshna es sie unterwegs gelehrt hatte, und sie vergaß keinen einzigen dabei:
„Surbold als erster war König Movennas
ihm folgte sein schöner Sohn Vidger
dann Glaukos und Henna
Katlyna Selanna
und Wulfric der König der Schwerter
von hoher Gestalt war Eirikir
und Flaric ein freundlicher Mann
schönen Künsten zugetan
dann Vagn der Starke und Luthold der Rasche
mit heller Stimme auch Lathmon und Kyris
so sind die Könige Movennas
mit Lorman und Orsan
richtig aufgezählt.“
Sie schaute Beifall heischend zu Aeshna hinüber, und die Alte nickte zufrieden. Lournu hatte die Reihe der alten Könige auf dem Wege sorgfältig auswendig gelernt. Wieder schrie einer der Soldaten.
„Dich werfe ich im Tal den tanzenden Schatten vor, du freches Ding“, grollte Harvart.
Doch Lournu lachte nur. „Die Schatten im Tal sind die Geister meiner Ahnen“, stellte sie fest. „Und die alten Könige sind dort. Glaubst du, sie werden ein Mädchen aus Movenna anrühren? Sei auf der Hut, fremder König. Es sind nicht deine Ahnen, die bei Surbolds Grab tanzen.“ Damit stieß sie ihrem Pony die Fersen in die Weichen und lenkte es hinüber zu den Bogenschützen.
„Deine Enkelin wird sehr frech, alte Frau“, brummte der fremde König Aeshna zu. „Du solltest ihr etwas mehr Respekt beibringen, das ist sicherer für sie.“
„Sie hat fast alles gelernt, was ich ihr auf dieser Reise beibringen wollte“, entgegnete Aeshna.
Wieder brach einer der Krieger in wahnwitziges Schreien aus.
„Heb du nur morgen den Stein“, drohte Harvart. Dann trieb er den Hengst an und sprengte davon.
*
Das Tal. Aeshna war schon oft im Tal der tanzenden Schatten gewesen. Und doch hatte der Ort für sie nichts von seinem geheimnisvollen Zauber verloren. Dunkle Berghänge, reichbewaldet, umschlossen das Tal, und in langsamen, würdevollen Wellenbewegungen glitten Licht und Schatten durch das dunkle Laub der Bäume. Schattengeister, die alten Mächte Movennas, wohnten im Tal, helle und dunkle Erinnerungen, und König Surbold war einer von ihnen.
Harvart war sehr schweigsam geworden, seit sie das Tal betreten hatten. Bösen, bleichen Gesichtes bewegte er sich durch die Schatten der Bäume, ein falscher König unter den Schatten Movennas, und biss nervös auf seiner Unterlippe herum. Auch die Krieger waren sehr still geworden, als spürten auch sie die Heiligkeit dieses Ortes.
Als der Wald sich lichtete, schrie Harvart auf.
Was immer er aus den alten Legenden über Surbolds Felsen erfahren haben mochte, so groß hatte er sich das Grabmal des Königs nun doch nicht vorgestellt. Wie erstarrt stand er vor der gewaltigen Felsplatte, eine lächerliche rotäugige Fliege, und mit blutunterlaufenen Augen las er die Inschrift:
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