„Vincent, Schatz! Du siehst müde aus.“
„ Willst du, dass die uns gleich dabehalten?“, schimpfte dieser statt einer Begrüßung und zeigte auf ihre Hose.
Magali schnaubte. „Was bist du nur für ein Spießer!“ Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. „Sieht doch gut aus.“ Dann drückte sie dem alten Portier einen Kuss auf die Wange. „Guten Tag, Papi!“
„Mademoiselle“, murmelte dieser verlegen.
„Hör auf, ihn durcheinanderzubringen“, maulte Vincent.
Doch Magali lachte nur. „Du bist heute wieder blendender Laune, wie ich sehe!“
Vincent und sie waren seit vielen Jahren befreundet. Kennengelernt hatten sie sich an einem warmen Sommertag im Park der Tuilerien. Zu einer Zeit, als Magali noch Marie Le Bellec hieß, Wonneproppen in Matrosenanzügen ihre Spielreifen manierlich den Weg entlangtrieben und elegante Herren hutlüftend die Damenwelt zum Erröten brachten. Mittendrin dann dieser junge Mann mit der Ballonmütze und dem mürrischen Charme, der verwegen genug war, den Spaziergängern trotz gesetzlichen Verbots Limonade zu verkaufen. Marie, von so viel Verruchtheit fasziniert, sprach den Fremden an und verliebte sich bereits in den ersten Minuten unsterblich. Was unausweichlich war, hatte sie doch nie zuvor einen Rebell kennengelernt. Er, der die Schwelle zum Erwachsensein bereits überschritten hatte, war ihren kindlichen Avancen mit Gleichmut begegnet. Heute lachten sie beide darüber.
Marie Le Bellec stammte ursprünglich aus Brest und war das Ergebnis einer außerehelichen Liaison. Kurz nach ihrer Geburt wurde sie in die Obhut von Benediktinerinnen gegeben, während sich ihre fromme, von Schuld zerfressene Mutter nach Afrika begab, um das Wort Gottes zu verbreiten. Wo sie recht bald an Malaria erkrankte und verstarb. Von ihrem Vater wusste Marie nur, dass er Leutnant bei der Marine gewesen war. Mit fünfzehn Jahren, kurz bevor sie die Weihe empfangen sollte, lief sie weg und landete in Paris. Sie hatte Glück. Nach einigen unliebsamen Begegnungen mit der Polizei wegen Herumstreunens fand sie Unterschlupf bei einem älteren jüdischen Ehepaar, das sich ihrer annahm und sie bei einem befreundeten Tuchhändler in die Lehre schickte.
Eines Abends, als sie mit Vincent am Ufer der Seine saß und einem hell erleuchteten Kahn hinterherblickte, der den Fluss mit Geschnatter und Gelächter überzog, erzählte sie ihm von ihrer Kindheit hinter düsteren Klostermauern. Von den nicht enden wollenden Gebeten zu einem ungerechten Gott, vom Tragen der Unterhose auf dem Kopf als Strafe fürs Bettnässen und vom leisen Weinen der Jüngeren im ungeheizten Schlafsaal. Im Gegenzug berichtete Vincent von den Pariser Waisenhäusern, wo es nicht Gebete, sondern Stockschläge hagelte und wo nicht nasse Unterhosen die Kinderhäupter zierten, sondern Kopfläuse. Nur das nächtliche Weinen war das gleiche gewesen.
Nach diesem Abend kamen sie nie wieder auf das Thema zu sprechen .
Im Laufe der Jahre brachte sie ihm das Lesen und Schreiben bei, er lehrte sie, sich über Autoritäten hinwegzusetzen. Nach Ausbruch des Krieges trennten sich ihre Wege. Zu der Zeit, als sie ihre Kaufmannslehre beendete, galt Vincent als vermisst, doch zwei Jahre nach Kriegsende liefen sie sich anlässlich der Feier zum 14. Juli auf dem Champs de Mars zufällig in die Arme. Vincent, der kurz davor stand, seinen Nachtklub zu eröffnen, bot ihr eine Partnerschaft an. Fortan kümmerte sie sich um die Buchhaltung und das Personal. Wie Vincent an das Kapital für den Klub gekommen war, wusste sie bis heute nicht. Die einen munkelten, er habe während des Krieges für die Engländer spioniert und sich seine Dienste teuer bezahlen lassen, andere meinten, er habe in großem Stil mit Waffen gehandelt. Ihr war es egal.
Wie die meisten Nachtklubs in Montmartre und Pigalle erwies sich das Nuits Folles als Goldgrube, denn nach den Schrecken des Krieges dürstete es die Menschen nach Zerstreuung. Während Vincent den Luxus in vollen Zügen genoss, brach Marie Le Bellec endgültig mit ihrer Vergangenheit und nahm den provenzalischen Namen Magali an, „weil er an gelbe Tischdecken und duftende Lavendelkissen erinnert“.
„Was ist nun?“, fragte Vincent ungeduldig und riss sie aus ihren Gedanken. „Fahren wir oder nicht?“
„In der Ruhe liegt die Kraft, Sportsfreund“, erwiderte Magali unbeeindruckt.
Doch der „Sportsfreund“ hörte sie nicht mehr. Er befand sich bereits auf dem Weg nach draußen.
In der Polizeistation des 4. Arrondissements herrschte Ausnahmezustand. Eine Menschenmenge stand dicht gedrängt im Vorraum und sorgte für Tumult, was für sich genommen nichts Ungewöhnliches war, doch statt der üblichen Verbrechervisagen, grell geschminkten Münder und obszönen Gesten, prägten schwarze Melonen, teure Pelzmäntel und geschwenkte Gehstöcke das Bild. Der diensthabende Brigadier am Empfang war offenkundig überfordert.
„Messieurs dames!“, rief er alle paar Sekunden. „Messieurs dames, bitte beruhigen Sie sich!“
Doch die Herrschaften hatten wenig Einsehen. Stattdessen schallten immer die gleichen Rufe durch den Raum. „Kommissar Fournier! Wir wollen mit Kommissar Fournier sprechen!“
Vincent und Magali versuchten vergeblich, sich durch die aufgebrachte Menschenmenge zu kämpfen. Alle hatten dasselbe Anliegen, und Kommissar Fournier tat den Teufel, sich sehen zu lassen.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Magali besorgt. Inmitten vieler Menschen fühlte sie sich unwohl.
Vincent zuckte mit den Schultern. Seiner Miene nach zu urteilen war auch er alles andere als begeistert. Magali wollte gerade einen Witz machen, um von ihrem Unbehagen abzulenken, als ihr Herzschlag ohne Vorwarnung aussetzte. Im selben Moment geriet die Welt in Schieflage, und die junge Frau krallte sich in ihrer Panik an einem pelzigen Arm zu ihrer Linken fest.
„Entschuldigen Sie“, keuchte sie, als die Besitzerin sie postwendend anfauchte, und fasste sich mit beiden Händen an die Brust.
Dann fing ihr heimtückisches Herz wieder an zu schlagen, und es fühlte sich an, als lieferten sich in ihrem Brustkorb betrunkene Pferde ein Rennen. Mit der Übelkeit kämpfend schloss Magali die Augen. Als sie diese wieder öffnete, fiel ihr unsteter Blick auf einen Mann, der sich auf den diensthabenden Brigadier zubewegte. Warum er ihr ins Auge stach, wusste sie nicht. An ihm war nichts Besonderes. Er war durchschnittlich groß, hatte dunkelblonde Haare oder vielleicht waren sie auch braun, und er trug einen grauen Mantel. Obwohl er nun direkt neben dem Brigadier stand, schien dieser ihn nicht zu bemerken, was schon recht eigenartig war.
Da löste sich der Mann plötzlich auf.
Magali blinzelte. Wie ist so etwas möglich? Der Gedanke war noch nicht zu Ende gebracht, als der Mann mehrere Meter hinter dem Brigadier wieder in Erscheinung trat; im abgesperrten Bereich, dort wo sich die Büros und Gefängniszellen befanden. Neugierig blickte er sich um, bevor er erneut mit seiner Umgebung verschmolz. Magalis Herz klopfte hart und unregelmäßig. Die Szene erinnerte sie an den Film Der Scheich , den sie einmal in einem Lichtspielhaus gesehen hatte. Er war immer wieder gerissen, was dazu geführt hatte, dass Rudolph Valentino wie von Zauberhand von einem Schauplatz zum anderen gehüpft war. Am Ende hatten alle ihr Eintrittsgeld zurückerhalten.
„Vincent?“ Ihre Stimme klang etwas zitterig, als sie sich an ihren Freund wandte, der seinen finsteren Blick durch den Raum schweifen ließ. „Hast du gerade den Mann gesehen, der durch die Sperre gegangen ist?“
„Welchen Mann?“ Vincent sah auf sie hinunter und erschrak. „Verdammt, was ist passiert?“
„Wieso fragst du?“
„Du bist bleich wie der Tod!“ Er legte seinen Arm um ihre Schulter. „Du musst dich ausruhen. Wir suchen dir einen freien Stuhl.“
„Nein, nein, lass mal! Ich dachte nur, ich hätte etwas gesehen. Es sind wahrscheinlich nur die vielen Menschen.“ Erschöpft lehnte sie sich an ihn. „Es ist wirklich nichts.“
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