„Ich knipse die Stehlampe an“, murmelte sie.
„Nein.“ Die Stimme, die aus der Richtung des Bettes kam, klang brüchig. „Bitte nicht.“
Die Haushälterin machte sich aufs Schlimmste gefasst, als sie dem Klang der Stimme folgte. Im letzten Krieg hatte sie ungeachtet ihres Alters in einem Lazarett gedient und mehr als einmal der Hölle ins menschliche Antlitz geschaut. Der Anblick jedoch, der sich ihr bot, kaum, dass sie am Fuß des Bettes angekommen war, hatte nichts mit Verätzungen, Schuss- oder Brandwunden zu tun.
„Jesus, Maria und Josef!“ Die alte Frau bekreuzigte sich, während ihr Körper Halt am Bettpfosten suchte. „Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht.“ Der sonore Bass von Monsieur Milhaud klang hohl. Beinahe geisterhaft.
Madame Boneasse holte tief Luft, bevor sie nähertrat und sich über ihre Herrin beugte. Ein Lufthauch traf ihre Wange. Der runzlige Mund unter ihr bewegte sich, offenbar versuchte sie etwas zu sagen.
„Monsieur, sie spricht.“
Maurice Milhauds Augen schwammen in Tränen. „Ich weiß, aber ich kann sie nicht verstehen.“ Er schluchzte. „Ich kann es nicht.“
Die alte Frau richtete sich wieder auf. „Ich werde den Doktor anrufen, und in der Zwischenzeit quartieren wir Sie ...“
„Ich verlasse meine Frau nicht.“
„Aber Monsieur!“ Die Haushälterin rang hilflos mit den Händen. „Vielleicht ist es ansteckend.“
„Nein!“ Der Ton in der Stimme duldete keinen Widerspruch. Ein letztes Aufbäumen.
„Wie Sie meinen“, stammelte die honorable Madame Boneasse, bevor sie endgültig die Fassung verlor und aus dem Zimmer stürzte, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Als der Arzt eine Stunde später eintraf, war Véronique Milhaud bereits tot. Sie war an Altersschwäche gestorben – im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren.
Kapitel 2Paris, April 1926
„Das wird Ihnen nicht gefallen, Patron!“
Vincent Lefèvre trat aus dem Badezimmer. „Was wird mir nicht gefallen?“
Der Besitzer des Nuits Folles , eines berüchtigten Nachtklubs in Pigalle, war ein dunkelhaariger Mann in den Dreißigern, groß und von kräftiger Statur. Als er die Schultern unter dem brokatenen Hausmantel bewegte, zeichneten sich darunter die Muskeln ab. Ein Tropf also, wer sich vom warmen Braunton seiner Augen täuschen ließ. Gustave Ledoux, ehemaliger französischer Boxchampion im Mittelgewicht und Mädchen für alles, war kein Tropf. Sachte nahm er das Frühstückstablett vom Servierwagen und stellte es auf den kleinen runden Tisch direkt am Fenster. Dann schenkte er Kaffee in eine Schale ein, fügte etwas Milch und ein Stück Zucker hinzu, bevor er einen Schritt zurücktrat.
Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck setzte sich Vincent an den Tisch, nahm ein Croissant aus dem Korb und tunkte es in seinen Kaffee. Mit einer kurzen Handbewegung forderte er Gustave auf, sich zu ihm zu gesellen, was dieser auch tat. Die wortlose Einladung, sich ebenfalls zu bedienen, lehnte er jedoch ab.
Nachdem Vincent zwei Croissants vertilgt hatte, sah er auf.
„Also, was ist?“
Gustave zeigte auf die Zeitung, die auf dem Frühstückstablett lag. Als Vincent die Titelseite sah, stieß er einen lauten Fluch aus.
„ Sag‘ ich doch“, murmelte Gustave und rieb seine schiefe Nase. Das tat er immer, wenn er beunruhigt war.
Auf dem Titelblatt des Petit Journal Illustré prangte eine rötlich braune Zeichnung. Zu sehen war ein schreiender Mann in einem Himmelbett, neben ihm lag eine skelettierte Frau im hauchzarten Nachthemd. Rechts im Bild spähten einige Dienstboten durch die halb offene Schlafzimmertür, auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck des Grauens. Vincent griff nach der Zeitung, schlug sie auf und fluchte einmal mehr. Da stand es. Gleich auf der zweiten Seite zwischen der Rubrik „Ihr Arzt empfiehlt“ und Tipps, wie man schnell zu Reichtum gelangte: Die Methusalem-Seuche forderte ihr dreizehntes Opfer. Sein Blick humpelte schwerfällig über den Artikel, saugte sich mehrmals an kniffligen Wörtern fest, um sich nach einer gefühlten Ewigkeit enttäuscht abzuwenden. In der Zeitung stand nichts, was Vincent nicht bereits wusste. Wie in den zwölf Fällen davor war jemand innerhalb weniger Stunden vergreist und gestorben. Ein grausames Ende, das diesmal eine junge Frau namens Véronique Milhaud ereilt hatte. Die Ärzte und Experten, die aus Deutschland, der Schweiz und weiß Gott woher angereist waren, standen vor einem Rätsel. In einer Stellungnahme erklärte der ermittelnde Kommissar, ein gewisser Bernard Fournier, dass bei dem neuesten Opfer weder Spuren von Gift noch Beweise für äußere Gewalteinwirkung gefunden worden waren. Dennoch wäre der Ehemann, wie in solchen Fällen üblich, der Hauptverdächtige, und natürlich würde man ihn befragen. Inoffiziellen Quellen der Polizei zufolge machte man sich dennoch keine Illusionen, was das Ergebnis der Vernehmung betraf.
Die Methusalem-Seuche, im Übrigen eine Namensschöpfung der Zeitungen, war vor zwei Monaten wie ein Fluch über Paris hereingebrochen. Dass die Opfer der illustren Gesellschaft angehörten, bereitete Vincent Magenschmerzen, denn die Reichen und Schönen waren es, die den Großteil seiner Klientel ausmachten. Seit Bekanntwerden der Todesfälle waren die Einnahmen dramatisch eingebrochen. Obwohl Mistinguett in seinem Klub auftrat, neben Josephine Baker die populärste Sängerin in Paris, waren die Tische nur noch spärlich besetzt. Statt auszugehen, verkrochen sich die Menschen im vermeintlichen Schutz ihrer eigenen vier Wände. Zu allem Überfluss schürten reaktionäre Kräfte das Gerücht, die Seuche sei durch diese neuartige „Negermusik“ aus Amerika ausgelöst worden.
Vincent knallte die Zeitung auf den Tisch. „Gustave, das Telefon!“
Der Angesprochene sprang auf, holte den schwarzen Apparat, der sich auf dem Nachttisch befand, und stellte ihn auf den Servierwagen.
„Hier, Patron.“
„Danke.“ Vincent nahm den Hörer ab. „Guten Tag, Mademoiselle. Geben Sie mir die Polizeistation des 4. Arrondissements ... Ja, ich warte.“
Ungeduldig klopfte er mit dem Fuß auf den Boden, dann verharrte er mitten in der Bewegung. „Wie meinen Sie das, die Leitung ist belegt? … Aha … Ja … Nein, warten Sie! Bitte verbinden Sie mich mit MON-335 … Ja, danke.“ Der Fuß nahm sein rhythmisches Klopfen erneut auf, um gleich wieder innezuhalten. „Magali? Ich bin’s, Vincent … Was? Nein! Du musst mich zur Polizeistation von Notre-Dame fahren … Nein, nein! Ich will nur mit jemandem sprechen … Gustave muss heute Vormittag zum Arzt. Seine alte Kriegsverletzung macht ihm wieder zu schaffen … Richte ich ihm aus. Also, wie sieht’s aus? … Die Metro? Ich habe einen Peugeot 177 in der Garage stehen!“ Das schwarzrote Automobil, das eine Spitzengeschwindigkeit von 70 km/h erreichte, war Vincents ganzer Stolz, auch wenn er es nicht fahren konnte. „Ach komm, du weißt doch, dass ich einen Höllenrespekt davor habe. Du dagegen bist ein echter Haudegen am Steuer! ... Es liegt mir fern, dir Honig ums Maul zu schmieren … Kolossal! Du hast was gut bei mir … Deinen Bugatti? Muss das sein? … Schon gut! Wenn du unbedingt darauf bestehst, nehmen wir deinen Bugatti.“ Vincent rollte entnervt mit den Augen. „Wann kannst du frühestens im Klub sein?“
Keine vierzig Minuten später stürmte eine junge Frau durch den zweiflügeligen Eingang des Nuits Folles und ließ den Blick prüfend über den Saal wandern. Noch harrten die Stühle umgedreht auf den Tischen, Bühne und Tanzfläche waren verwaist, die blank polierten Spiegel ohne Anbeter. Als sie Vincent mit dem alten Portier, den alle nur Papi nannten, an der Bar entdeckte, winkte sie fröhlich. Magali war eine schicke junge Frau von achtundzwanzig Jahren, die ihren rostroten Schopf in einem kurzen Bob trug. Die schweren Lider unter den schwungvoll gezeichneten Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht einen melancholischen Ausdruck, auch wenn der Blick aus ihren hellgrünen Augen meist unverschämt direkt war. Sie war von knabenhaftem Wuchs und trug eine graue Hose, dazu ein weißes Männerhemd und eine dunkelrote Jacke mit Schalkragen und Blume im Knopfloch. Magali war das, was man eine Garçonne nannte. Frauen, die ihre Emanzipation durch einen männlichen Kleidungsstil zum Ausdruck brachten.
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