Jämmerlich sahen die Bronzestückchen aus, wie sie da so auf der großen Tischplatte lagen. "Noch eins!", forderte Llauk.
Szin schien ihn nicht gehört zu haben. Scheinbar lethargisch saß er da und rührte sich nicht.
"Noch eins!", wiederholte Llauk.
Da endlich kam Leben in die dunkel gekleidete Gestalt. Langsam griff Szin unter den Tisch und zog zu Llauks namenlosem Schrecken einen fast ellenlangen, aber nur etwa fingerdicken Dolch aus reinstem Stahl aus seinem Stiefelschaft.
Es war schwer zu sagen, was Llauk mehr erschütterte: Die Drohung, die im Ziehen dieser nadelfeinen Waffe lag, oder der schier unermeßliche Wert dieses Dolches. Welches Wissen und welche Kunstfertigkeit waren nötig, um solch eine stählerne Waffe zu schmieden!
Llauk machte ein Gesicht, als seien ihm sämtliche Götter Thedras gleichzeitig erschienen. Schauer der Ehrfurcht und der Angst wechselten sich auf seinem Rücken ab, aber gleichzeitig stieg auch ein Gefühl der Bitterkeit in seiner Kehle hoch. Da spielte dieser Mörder mit dem Gegenwert eines ganzen Palastes herum, um ein lächerliches, drittes Geldstück zu verteidigen.
Vorsichtig nahm Llauk sein Almosen von der Tischplatte auf und ging zur Tür. Als er sich in der Tür nochmals umdrehte, saß Szin schon wieder unbeweglich auf seinem Platz. Der wunderbare, fürchterliche Dolch war nicht mehr zu sehen.
Wie ein Kind zum Markt, seine beiden Geldstücke fest in der gesunden Hand haltend, ging Llauk zum Hafen hinunter und betrank sich.
Er hatte gerade den ersten Becher Wein geleert, als die `Große Geliebte' im ruhigen Wasser des Hafenbeckens vorbeizog. Llauk dachte an einen gewissen Hund, der mal auf dem Schiff gelebt hatte. Trotzig hob er seinen angebrochenen Arm, und vor Schmerz aufstöhnend schenkte er sich mit seiner bandagierten Hand nochmals ein.
Als er später in seine Wohnung zurückkehrte, war der Platz, an dem Szin gesessen hatte, leer. Llauk nahm an, dass er zum Hafen hinuntergegangen war, um auf einem dramilischen Schiff zu übernachten. Auch die Schatulle war natürlich verschwunden.
Llauk warf sich zornig auf das schlechte Bett in der Ecke des Raumes, und wäre sein Arm nicht angebrochen gewesen, hätte er wohl mit beiden Fäusten darauf eingetrommelt.
Die folgenden Wochen waren für Llauk voller quälender Ungewißheit. Er machte sich Sorgen darum, ob es seinem Geschäftspartner in Sordos wohl wirklich so schlecht ging, wie er vermutete. War es vielleicht möglich, dass die Dramilen in ihrer Bosheit die Familie in Sordos in Freuden und Wohlstand leben ließen, während er, Llauk, mit einem lächerlichen Almosen in Thedra darben mußte?
Wäre doch wenigstens Sajai hier, die Dienerin mit den unsagbar zärtlichen Händen, dann würde er die endlosen Tage im Kaufmannsfelsen wenigstens etwas besser ertragen. Aber der Gedanke an Sajai machte alles nur noch schlimmer. - Was würde der Kaufmann mit ihr anstellen, wenn seine Frau auf dem Markt war? Sajai war leicht zu entflammen, das wußte Llauk.
Halb wahnsinnig vor Wut und Eifersucht rannte Llauk durch die Straßen von Thedra. Meistens war er auf der Suche nach Szin. Der Kerl machte sich einen Spaß daraus, sich vor Llauk zu verbergen. Manchmal war es schon weit nach der Tagteilung, bis Llauk seine täglichen Bronzestücke endlich erhielt.
So hatte er sich sein Leben als feiner Herr nicht vorgestellt. Kaum traute er sich, sein tägliches Geld auszugeben, aus Angst, Szin könne irgendwann die Zahlungen gänzlich einstellen. Aber der Mensch muß essen, und Llauk war jung und hatte eigentlich immer Appetit. So sehr er sich auch bemühte, nie gelang es ihm, ein paar Geldstücke für seine Flucht zusammenzusparen.
So "nagte er an seinem Leben, wie der Hund an der Steckrübe", wie man in Thedra sagte - Widerwillig, übellaunig, aber doch nicht bereit, das bisschen was er hatte, fahren zu lassen.
"Würden die Menschen aus Fehlern lernen, wie wollten sie je in Not kommen?", sagt man in Thedra.
Natürlich versuchte Llauk doch zu fliehen.
Etliche Wochen nach Sed eb Reas Abreise hatte Llauk durch geschickte Einkäufe wirklich einen ansehnlichen Warenbestand in seiner Höhle eingelagert.
Nun ergab es sich, dass einer seiner Nachbarn sein ganzes Lager an einen reisenden Händler aus Oskan hatte verkaufen können und Llauk in den Ohren lag, dass er dringend neue Stoffe brauche.
Llauks Entschluß war schnell gefaßt: Er verkaufte dem Mann spätabends, als Szin schon im Fremdenhaus oder auf seinem Schiff sein mußte, seine sämtlichen Stoffballen mit einem schönen Gewinn, packte eilig sein Bündel und verschwand aus Thedra.
Nachdenklich ging er den Felssteig entlang, den einzigen Weg, der ins Innenland nach Estador führte.
Bestimmt war das die beste Lösung. - Einfach weggehen! Die Geschäfte mit den Dramilen hatten ihm kein Glück gebracht, das sah er allmählich selbst ein. Zwar tat es ihm ein wenig leid um den schönen Gouverneursposten, aber wer wollte sagen, ob die Dramilen auch ihr Wort halten würden?
Vierhundert Bronzestücke hatte Llauk in der Tasche. Davon konnte er recht lange auskömmlich leben, und einem pfiffigen Kerl wie ihm würde schon wieder ein gutes Geschäft begegnen - da war er sich sicher.
Freundlich grüßte Llauk die Wache, die die Stadtgrenze bewachte, und die Männer ließen ihn anstandslos passieren. Jetzt war er wirklich frei. Fröhlich pfeifend ging er über den Platz, an dem die Waren aus den Provinzen Estadors von Karren auf Träger umgeladen werden mußten.
Frei! Endlich wieder frei! Fast zweihundert Tage hatte er unter der Knechtschaft der Dramilen gelitten. - Mehr als genug! Mochte dieser Szin ihn nur suchen. Llauk war gewitzt. Er würde seine Spuren so gründlich verwischen, dass niemand ihn mehr finden konnte.
Llauk schritt weit aus. Je mehr Strecke er vor dem Morgengrauen zwischen sich und diesen verfluchten Mörder bringen konnte, umso besser. Eilig ging er in den Hohlweg, den am Tage die Karren von Estador herunterkamen. Den Weg, den er mit seinem Vater zum ersten Mal und danach noch so oft gegangen war. Noch dreitausend Schritte bis zum Scheideweg. - Nein! Er würde nicht nach Idur zurückkehren. Die Sache mit Tos eb Far konnte warten. Er würde ... Ja, was würde er tun? Llauk wurde langsamer. Wo konnte er hingehen?
Plötzlich erschien Llauk die Freiheit gar nicht mehr so erstrebenswert. - Aber dass er nicht zurückwollte, nicht zurückkonnte, war ihm klar. - Also weiter!
Llauks Hochgefühl war schon lange dahin, als es seitlich im Gebüsch raschelte. Llauks Hand fuhr zum Gürtel, wo er früher immer seinen kleinen Dolch getragen hatte. - Aber seine Hand griff natürlich ins Leere.
Obwohl Llauk durch das Geräusch gewarnt gewesen war, kam der Anprall des Dunkelgekleideten völlig überraschend für ihn. Etwas Hartes schlug so heftig in seine Magengrube, dass ihm der Atem stehenblieb. Blitzschnell tastete eine Hand nach seinem Nacken und griff brutal zu.
Llauk fühlte sich, als sei sein Körper in kochendes Metall gehüllt. Er stürzte zu Boden, wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Gelähmt und hilflos lag er auf dem Rücken und sah, wie die dunkle Gestalt sich über ihn beugte. Stahl blitzte kurz im Mondlicht auf. Llauk spürte tastende Finger - kaltes Metall - und dann versank die Welt um ihn in einem flammenden Nebel des Schmerzes.
Wenig später in der Nacht machte sich ein an Leib und Seele gebrochener Llauk wieder auf den Rückweg nach Thedra. Er hatte die Botschaft seines Herrn verstanden. Langsam und bedächtig setzte Llauk Fuß vor Fuß. Er konnte nur hoffen, dass den Stadtwachen am Passweg sein seltsamer Gang und sein durchblutetes Gewand nicht weiter auffielen.
Das war das letzte Mal gewesen, dass Llauk eine Chance gehabt hatte, sich seinen Herren zu widersetzen. Llauk stöhnte bei jedem Schritt. - Der durchstochene Hoden tat entsetzlich weh.
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