Ich merke, dass ihr noch Fragen zu der Art unserer Aufträge habt. Glaubt mir, es ist auch für mich immer noch etwas verwirrend, am besten erzähle ich Euch jetzt, wie die Geschichte mit meiner Schwester weiterging, denn ihre Geschichte hat auch mit mir zu tun.
Eleya ist die Jüngste von uns allen, zum Zeitpunkt des Übergangs war sie zwölf Jahre alt. Wenn wir unsere Aufträge erhalten, wissen wir gleichzeitig, wer von uns welche Rolle übernehmen soll, und Eleya war bisher niemals mit einer Aufgabe betraut worden. Umso mehr wunderten wir uns, dass gerade jetzt bei diesem sehr wichtigen Auftrag Eleya die Rolle als Macher ausüben sollte. Ausgerechnet Eleya, also wirklich! Zum Glück sind wir meistens körperlos, sonst würde ich bezweifeln, dass sie sogar ihre Schuhe richtig zubinden kann. Aber egal, diesmal passte mir die Auswahl, denn ich bezweifelte, das Eleya den Auftrag bewältigen konnte. Und genau dies war ganz in meinem Sinn. Ich musste sie nur in ihrer tapsigen Art unterstützen, damit dieser Auftrag in den Sand gesetzt wird, dann hätte ich auch mein Ziel erreicht.
Ich war diesmal als Destruktor eingeteilt, meine Aufgabe war es, den Macher zu unterstützen und gleichzeitig mit allem zu versorgen, damit er seinen Auftrag ausführen kann. Außerdem war es meine Aufgabe, das “Partnerwesen”, wie wir es nennen, auf seinen Auftrag vorzubereiten. Manchmal musste man sehr behutsam vorgehen, doch ich dachte, dass diesmal ein etwas zügigeres Vorgehen angebracht war. Ich hatte auch schon eine Idee, wie ich vorgehen könnte, daher leitete ich nun die erste Kontaktaufnahme ein.
Die Basis
WHAAAAM!
Eine gewaltige Erschütterung erfasste das Cockpit, das gleichzeitig von einem blendend hellem Blitz begleitet wurde. Ein dreifaches Piepen erklang und eine unsichtbare Stimme schnarrte monoton: „MISSILE! MISSILE! MISSILE!“
„Verfluchter Mist“, rief Mika und riss den Stick nach links und brachte dadurch den Kampfjet in die Rückenlage. Gleichzeitig zog er den Stick scharf zu sich heran und leitete einen Sturzflug ein.
„Wahrscheinlich ist die Rakete eine AMRAAM“, meldete Carlos. „Entfernung achthundert Meter, schnell näher kommend.“
Er blickte über seine Schulter nach hinten. Was er sah, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.
„Cara del curo, verdammt!“ Die fremde Rakete klebte noch an ihren Fersen.
Carlos drückte einige Schalter auf der rechten Konsole. Mehrmals war ein dumpfes Klack-Boff zu hören. Carlos wusste, dass in diesem Moment kleine Kartuschen aus dem Spender in der rechten Tragfläche nach hinten ausgestoßen wurden. Drei Sekunden später würden mehrere kleine Magnesiumsonnen mit über dreitausend Grad für die Rakete ein neues Ziel darstellen. Carlos zählte mit: „Drei, Zwei, Eins ...“, eine kurze Pause erfolgte, in der ein blendendes Licht entstand. „Mierda!“
Abrupt änderte Mika erneut die Flugrichtung und schob gleichzeitig den Schubregler bis zum Anschlag nach vorne. Donnernd erwachten die Nachbrenner zum Leben und leiteten einen rasanten Steilflug ein. Der fremde Lenkflugkörper war immer noch hinter ihnen.
„AMRAAM immer noch auf Verfolgungskurs. Abstand dreihundert Meter.“
Carlos schluckte hörbar.
„Noch zweihundert Meter ..., ACHTUNG, KONTAKT IN FÜNF SEKUNDEN!“
Mika riss den Steuerknüppel nach hinten. Sofort bäumte sich der Jet auf und begann, senkrecht nach oben zu steigen.
„Kontakt in DREI ..., ZWEI ..., EINS ...“
Die sich schnell nähernde Rakete erkannte den heißen Triebwerksausstoß des Jets und errechnete, dass sie nun nahe genug war. Sie explodierte. Eine kleine Sonne begann zu leuchten und eine gewaltige Glutwolke bereitete sich aus. Das letzte, was Mika sah, war das Licht! Doch kurz vorher erkannte er noch, wie sich in den Glutwolken ein Gesicht zu formen begann. Große, längsgeschlitzte Pupillen blickten ihn an. Weißes Haar wurde von glühenden Turbulenzen durcheinandergewirbelt. Blaue Lippen wurden aufgerissen und formten die letzten Worte, bevor die lodernde Glutwolke alles zerriss:
„MIKAAH, HILF MIR!“
Mika zuckte zusammen, als die letzten Ausläufer eines gewaltigen Blitzes den Raum erhellten. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Atem ging rasselnd, und während sich seine Hand am Tisch festkrallte, versuchte er zu erkennen, wo er sich befand.
„Was für ein Albtraum“, dachte er.
Mika war an seinem Schreibtisch eingeschlafen.
OK, der Staffelarzt hatte ja gesagt, dass sich seine Albträume bald ändern würden. Nun, im Prinzip hatte er Recht, sie sind schlimmer geworden!
Ein gedämpfter Donner grollte über den Stützpunkt. Vor wenigen Minuten war Mika am Tisch eingeschlafen, aber er hielt immer noch die Fotos in der Hand.
Eigentlich spendete die Kerze viel zu wenig Licht, um irgendwelche Einzelheiten deutlich erkennen zu können, doch das war auch nicht notwendig, schon hundert Mal zuvor hatte er die Bilder gesehen, er kannte jede Einzelheit, jedes kleine Detail.
Mikas Atem wurde ruhiger.
Sehr langsam, beinahe schon andächtig, griff er nach dem obersten Bild des Stapels, den er in der linken Hand hielt, und steckte es nach hinten.
Die Eiswürfel in dem Glas waren schon lange geschmolzen. Das aufwändig verzierte Glas bildete in diesem schmucklosen Raum ein Fremdkörper. Es handelte sich um ein geschliffenes, achteckiges Kristallglas, in dessen Boden von unten der Kopf einer Meduse eingraviert war. Das flackernde Kerzenlicht bewirkte, dass sich gold-gelbe Lichtreflexe in den Facetten des Gesichts der Meduse brachen, und es hatte den Anschein, als ob der Kopf von einem lodernden Flammenkranz umrahmt wurde. Hin und wieder brachen sich violette Reflexionen einiger entfernter Blitze im Glas, doch außer der Meduse schien dies keiner zu bemerken.
Der alte Player in der Ecke trällerte den Oldie „Behind Blue Eyes“, doch das nahm Mika nicht wahr.
Er hob den Kopf an und sah durch das kleine Fenster nach draußen. Am Horizont war ein leuchtendes Band zu sehen, begrenzt von Gewitterwolken. Bald würde die Sonne aufgehen, doch wie es aussah, würde man durch das aufziehende Gewitter davon nichts sehen. Wieder zeigte sich am Horizont für mehrere Sekunden das ungewöhnliche Wetterleuchten. Es wird einen Sturm geben, dachte Mika. Wie damals.
Erneut nahm er das oberste Foto und steckte es bedächtig nach hinten. Wie lange war es her? Heute ist ... Dienstag, nein, schon Mittwoch. Also ist es dreihundert ... achtundsiebzig Tage her. Es folgte ein kurzer Blick auf die Uhr, ... und zwei Stunden. Ein verzerrtes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen . Es ist doch schon seltsam, wie innerhalb einer Sekunde alles ganz anders werden kann. Alles, was mir etwas bedeutet hatte, ist weg.
Er griff nach dem Glas und hielt es in der Hand. ALLES IST WEG! Und das hier ist nun mein Zuhause, stellte er fest.
Mikas Blick löste sich von dem Lichtspiel am Horizont und begann, im Zimmer umherzustreifen. Schmucklose, funktionelle Vierkantstahlmöbel, wie sie in der gesamten Armee benutzt wurden. Zumindest hatte er nie etwas gravierend anderes gesehen. In der Ecke stand eine selbst gekaufte Ikea Kommode, Modell Oereson oder so ähnlich, auf dem die Tag und Nacht eingeschaltete Kaffeemaschine stand. Längst hatte sich der letzte Kaffee in einen braunen Belag verwandelt, der in einer weiteren Schicht die Glaskanne überzog. Über der Kommode hatte Mika ein paar Filmposter aufgehängt, das größte davon war eine seltene Version des Films GLADIATOR, welches er auf einer Filmbörse in München erstanden hatte.
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