„Stellt euch doch nur einmal Folgendes vor. Wir gehen nun alle gemeinsam durch das Portal und finden uns auf der anderen Seite in einer Welt wieder, die nur aus Wasser besteht. Ich hoffe, ihr seid alle gute Schwimmer!“, versuchte Berkeldorf seine Gedankengänge erneut darzulegen.
„Scho ein Kääse, wir schind immer genau dort wieder angekommen, wo wir auch aufgebrochen schind, oder etwa nisch?“
„Ja, doch. Aber jetzt hat sich das Gezeitensieb geschlossen. Wer kann sagen, dass, wenn es sich wieder öffnet, die Umstände noch genauso sind wie zuvor!“
In den Ohren von Pfeifentrist klangen die Einwände Berkeldorfs auf einmal ganz vernünftig. Er setzte sich auf die Bank unter den dicken Ästen der uralten Eichen und dachte über die Sache nach.
„Oder wie wäre es, wenn wir hindurchgehen und in einer Welt voll flüssiger Lava ankommen?“, schlug Berkeldorf vor, seine Phantasien wurden immer grauenhafter. „Oder wir kommen in einer Welt an, die nur von abscheulichen, riesigen Insekten bewohnt wird? Oder von gigantischen Echsen?“
„Dasch wird mir jetsch aber escht zu blöd! Gib mir den Vogel Pfeifenkopf, und du Berkelfurz halt endlisch die Klappe!“ Hinkelmann hatte sich wieder aufgerappelt und ging drohend auf den friedlich dasitzenden Pfeifentrist zu. „Her mit dem Viech, sag' isch!“
„Halt! Halt! Vielleicht ist da etwas dran an dem, was Berkeldorf gesagt hat!“ Pfeifentrist hatte beide Arme zur Abwehr gehoben.
„Rück jetzt den Vogel rausch oder esch kracht!“, schrie jetzt Hinkelmann mit hochrotem Gesicht und fiel gleich darauf wieder auf den gepflegten Rasen der Parkanlage. Quintus hatte ihn von hinten mit einem Faustschlag auf den Schädel niedergestreckt.
„Tschultschung!“, meinte der riesenhafte Zauberer Quintus daraufhin nur. Er war augenscheinlich von etwas schlichterem Gemüt.
„Aber Berkeldorf“, fing dann Pfeifentrist wieder an. „Wie sollen wir denn dann herausfinden, ob uns das Sieb nun wieder in unsere Heimat zurückführt, oder eben nicht?“
„Mein Vorschlag wäre, wir stellen uns ganz nahe an die Bäume und werfen den Vogel hindurch, dann versuchen wir einen Blick auf das zu erhaschen, was uns am anderen Ende erwartet. Etwas Besseres fällt mir da auch nicht ein!“ Berkeldorf wusste natürlich, dass, wenn sich das Sieb hinter dem Vogel sofort wieder schließen würde, sie unter Umständen ihre allerletzte Chance zurückzukommen verspielt hätten. Doch da Pfeifentrist auch keine andere Möglichkeit in den Sinn kommen wollte, Quintus überließ wie immer anderen die Entscheidung, und Hinkelmann war noch nicht wieder zu Sinnen gekommen, beschlossen sie es genau so zu machen.
Pfeifentrist holte umständlich mit ungeschickten Fingern, auch er hatte dem Alkohol ausgiebig zugesprochen, obwohl man es ihm nicht allzu sehr anmerkte, die Zigarrenkiste aus den Weiten seiner sackähnlichen Kutte heraus. Die anderen Zauberer, bis auf Hinkelmann, der noch betäubt am Boden lag, starrten in das Kästchen, der Vogel schien friedlich zu schlummern. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man das kleine Herz unter dem schwarzgrauen Gefieder klopfen sehen. Dann nahm der Alchimist das Tier aus seinem Gefängnis. Ein merkwürdiger Schauder überlief Pfeifentrist, als er das warme lebendige Tier in seine beiden Hände nahm; das Kästchen ließ er einfach fallen.
Höllenstiebel hatte die Ereignisse aus sicherer Entfernung beobachtet und sich zu diesem Zweck hinter einer Hecke versteckt. Mit einiger Faszination hatte er, ebenso wie die Zauberer, den Ausführungen Berkeldorfs gelauscht. Sehr interessante Ideen gingen dem alten Zausel da durch seinen eckigen Kopf, dachte Stiebel. Das schien ihm doch derjenige der Saufköpfe zu sein, mit dem eventuell noch etwas anzufangen sein würde. Mochte es wirklich noch mehr Welten geben? Nun, vielleicht existierten ja in der Tat unzählige Welten, doch, und hier befand sich der Dämon wieder auf sicherem Grund, gäbe es unter Garantie nur eine einzige Unterwelt, die für all diese oberirdischen Reiche zuständig war, oder? Schon zweifelte der Dämon an seiner neuen Theorie, all diese Unwägbarkeiten machten ihm langsam aber sicher zu schaffen. Würde es denn wahrhaftig mehrere Höllen geben, mehrere Luzifere, mehrere Großmütter, Mannomann! All diese komplizierten Gedankengänge schienen das Hundegehirn leicht zu überfordern, denn ein stechender Schmerz machte sich in dem kleinen Schädel breit, und Höllenstiebel unterließ es nun tunlichst das Tier weiterhin überanzustrengen. Gespannt beobachtete er weiter die trunkenen Alchimisten. Was würde bei der Sache wohl herauskommen?
Pfeifentrist hatte sich in der Mitte der beiden Eichenbäume aufgebaut, nahm den Vogel nun in seine Rechte, drehte sich noch einmal mit einem fragenden Blick nach seinen Kollegen um ..., und zögerte dann.
„Soll ich?“, fragte er jetzt zaghaft.
„Moment, Moment, das Beste ist, wir stellen uns genau an die Linie zwischen den Bäumen, um auch wirklich einen Blick nach drüben tun zu können!“, meinte Berkeldorf. Das klang ziemlich vernünftig in Pfeifentrists Ohren.
Gerade schlug eine Kirchturmuhr ganz in der Nähe zweimal. Der Zauberer holte zum Wurf aus, das Bündel aus Federn flog in weitem Bogen durch die Lücke zwischen den Zwillingseichen in den Nachthimmel hinein. Es sah aus, als hätte der Zauberer einen gefiederten Ball geschleudert, das Tier wirbelte beständig um die eigene Achse durch die Nachtluft. Ein wirklich toller Wurf, mit einem leichten Effay!
‚Es hätte längst etwas geschehen müssen‘, dachte Pfeifentrist. ‚Zumindest ein Geräusch, ein Leuchten, wenn sich ein Spalt im Äther öffnen würde. Nichts! Gar nichts!
Doch bevor das zusammengerollte, betäubte Tier auf den Rasen prallte, breitete es urplötzlich die Flügel aus. Die allerersten Strahlen der aufgehenden Sonne beleuchteten seine Schwingen und ließen sie in allen Farben des Spektrums erstrahlen. Der Löwennattich berührte beinahe noch die oberen Blätter der Hecke, unter der der Jack-Russell-Terrier verborgen lag, dann verspürte sein Flügelpaar Aufwind. Er beschrieb einen weiten Bogen um den rechten der beiden Bäume herum, war dann auf einmal weit oben über den Köpfen der verdutzten Alchimisten und vollführte dort so etwas wie einen leicht missglückten Looping. Anscheinend war er doch noch etwas benommen, von der chemischen Substanz, die ihm Wunsiedel eingeflößt hatte. Dann sauste das Tier noch einmal im Tiefflug über die Schädel der Zauberer, öffnete seinen orangefarbenen Schnabel und keckerte lauthals, als wollte er sie verspotten, und war in der Morgendämmerung verschwunden, vier reichlich bedröppelt blickende Zaubereraugenpaare zurücklassend.
Hinkelmann, der sich gerade wieder aufgerappelt hatte, schwor noch Jahre später Stein und Bein, er hätte ganz genau gehört, dass der Vogel 'Aufwiederdertschi, ihr Hohlköpfe', gerufen hätte.
Diese Halluzination hielt den Zauberer Hinkelmann allerdings keineswegs von seiner Absicht ab, es dem Quintus heimzuzahlen. Aus vollem Lauf heraus rammte er jetzt den riesigen Kerl, und brachte diesen dann auch tatsächlich ins Straucheln. Pfeifentrist, der noch lange mit offenem Mund dem entschwindenden Vogel nachgeblickt hatte, wollte sich Hinkelmann in den Weg stellen, wurde von diesem aber sofort mit Fausthieben traktiert. Der Mann war nun völlig außer Rand und Band.
„Ihr Schrumpfköppe, dafür hab isch nu mein letschtes Hemd gegeben!“, rief er, während er auf seinen Kollegen einschlug. Schließlich hatte sich Quintus wieder aufgerappelt und versuchte gerade mit Hilfe von Berkeldorf den Wüterich von Pfeifentrist herunterzuziehen, als ganz in der Nähe eine Sirene erklang.
Das Polizeiauto nahm keine Rücksicht auf das Hinweisschild, das das Betreten des Rasens strengstens untersagte und hinterließ breite Reifenspuren auf dem Grün. Die Nacht der Alchimisten endete schließlich in der Ausnüchterungszelle auf dem dritten Revier, welches sich zum Glück für Höllenstiebel nicht allzu weit vom Park entfernt befand. Der Jack-Russell-Terrier verfolgte den Wagen bis dorthin und legte sich dann hechelnd in der Nähe der Eingangstür auf die Lauer. Er wollte nicht verpassen, wenn die Alchimistenbande wieder aus der Haft entlassen werden würde, auf jeden Fall wollte der Dämon herausfinden, wo sie ihren Unterschlupf hatten. Höllenstiebel glaubte nicht, dass die Polizisten die Kerle lange Zeit festhalten würden. Ein wenig Streit in trunkenem Zustand konnte wohl unmöglich eine größere Bestrafung nach sich ziehen.
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